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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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behalten konnte. Schenja trieb sein Spiel mit ihm und ließ ihn beinahe gewinnen, aber es war unmöglich, gegen einen Mann zu verlieren, der beharrlich seine Dame zu früh und seinen Turm zu spät zum Einsatz brachte.
    Bei ihrer letzten Begegnung hatte Schenja bemerkt, dass Jakow sich mit Kugelschreiber Zahlen in die Handfläche geschrieben hatte, und er hatte gefragt, ob das Züge seien. Sofort war Jakow zur Toilette gegangen, um sich die Hände zu waschen. Schenja hatte die Uhr angehalten und gewartet.
    Nach einer halben Stunde begriff er, dass der Wachmann nicht zurückkommen würde. Er bezahlte das Sandwich, das er nicht gegessen hatte, stopfte sein Schachspiel in den Rucksack und ging hinaus auf den Platz. Der Abend ließ die schäbigen Stände, Kioske und Spielhallen betriebsam und hell erscheinen. Das Kasino war die Ausnahme. Die Neongestalt Peters des Großen, des Herrschers über ganz Russland, war abgeschaltet: ein schwarzes Loch im glitzernden Licht. Zwei uniformierte Milizbeamte standen vor dem Vordereingang des Kasinos.
    Niemand kannte die Schleichwege und Hinterhöfe bei den Drei Bahnhöfen besser als die Straßenjungen, unter denen Schenja sich bewegte. Er huschte in den Schatten des nächsten Hofes, kletterte auf eine Pyramide aus Autoreifen zur Mauerkrone hinauf und ließ sich auf der anderen Seite in einen Müllcontainer im Hof des Kasinos fallen. Der Hintereingang neben dem Tor der Laderampe war mit einem beleuchteten Tastenfeld zu öffnen.
    Das Schloss war allerdings zusätzlich mit einem Fingerabdruck-Scanner versehen, sodass jemand, der nur die Zahlenkombination kannte, trotzdem keinen Zugang fand. Das Tastenfeld war aus Messing, ohne Kratzer, nagelneu. Schenja holte seine Minitaschenlampe heraus und fand auf dem Boden ein Häufchen Mörtelstaub, der beim Anbringen des Schlosses vom Bohrer gerieselt war. Wie viele mögliche Kombinationen gab es? War beides aktiviert, das Zahlenschloss und der Scanner? Oder nur eins von beiden? Gab es irgendwo einen lautlosen Alarm, oder heulte hier eine Sirene auf? Wohin war Jakow, der Mann ohne Gedächtnis, verschwunden? Wie kam man am schnellsten weg, falls ein Alarm losging? Schenja hielt sich fluchtbereit und gab die Zahl ein, die er auf Jakows Handfläche gesehen hatte. Die Tür öffnete sich seufzend.
    Und so nahm Schenja das Kasino »Peter der Große« in Besitz. Daran war nichts Ungewöhnliches. So viele Straßenjungen wohnten in Eisenbahnwagen, Kellern, leer stehenden Gebäuden und auf Baustellen, dass der Moskauer Bürgermeister sie »Ratten« nannte. Obwohl Schenja unbefugt eingedrungen war, fühlte er sich hier zu Hause - mehr als in den vergammelten Wohnungen aus der Chruschtschow-Ära, die er mit seinem Vater bewohnt hatte, im Kinderheim oder unter Arkadis Augen. Er musste hier still wie ein Geist sein, aber das Kasino war die erste eigene Wohnung, die Schenja je gehabt hatte. Und wenn sie ihn erwischen sollten, was konnte dann schon passieren? Er hatte ja nichts verwüstet; im Gegenteil, er kümmerte sich um alles.
    Hochglanzbroschüren beschrieben das »Peter der Große« als »nur einen Stern in einer Galaxie von Vergnügungsstätten im Angebot der WGI, der Waksberg Group International«. Anscheinend besaß die WGI zwanzig weitere Spielkasinos in Moskau, einige davon sehr viel prächtiger als das »Peter der Große«, ganz zu schweigen von Kasinos in London, Barbados und Dubai. Ein Unternehmen wie die WGI hatte im Kreml Freunde und Feinde. Eine Pattsituation wie diese konnte eine ganze Weile dauern.
    Statt seine Zeit in der Schule zu vergeuden, studierte Schenja Schachpartien. Marshall gegen Capablanca, London 1913. Spasski gegen Fischer, Reykjavik 1972. Er hatte nicht das Gefühl, dass er etwas versäumte. Er konnte zur Schule gehen und am Tag der Examensfeier die Schärpe des »Besten Schülers« tragen, aber der einzige sichere Weg zum Universitätsstudium bestand darin, dass man einen dicken Umschlag mit Geld im Zulassungsbüro ablieferte. Die Hilfe, die Arkadi ihm anbot, wies Schenja zurück. So lebte der Junge bei den Drei Bahnhöfen wie in einer Luftblase, allein und hoch über der Menge.
    Tagelang erkundete er den Zählraum, den Käfig des Kassierers, den Korridor hinter den Einwegspiegeln und den Raum der Security mit den elastischen Fesseln. Im Aufenthaltsraum der Croupiers hingen schwarze Jacketts und Schleifen. Schenja hängte sich eine Krawatte lose um den Hals und malte sich den Neid der VIPs und die ehrfurchtsvollen Blicke

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