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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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dem Gang mit den Leichenkammern kamen Stimmen, und Willi richtete sich auf. Als sie verklungen waren, fragte er: »Möchtest du dem Einlieferungsbericht noch etwas hinzufügen? Etwas, das mir entgangen ist?«
    Die Mediziner waren es gewohnt, das letzte Wort zu haben, und deshalb wählte Arkadi seine Worte sorgfältig.
    »Du hast Schmutz unter den Fingernägeln erwähnt, aber nicht, dass ihre Nägel manikürt waren. Wie ihre Zehennägel.«
    »Frauen lackieren sich die Nägel. Seit wann muss man das erwähnen?«
    »Ihre Kleidung ...«
    »Sie war gekleidet wie eine Schlampe.«
    »Die Sachen waren schäbig, aber neu. Die Stiefel von schlechter Qualität, aber ebenfalls neu.«
    »Du denkst viel zu viel über dieses Mädchen nach.«
    »Dann ist da die Abwesenheit von blauen Flecken und Schrammen, von all den Verschleißspuren, die sich beim Sex mit unangenehmen Kunden in Hinterhöfen und Wohnwagen ansammeln.«
    Willi blies ihm einen Rauchring entgegen. »Alter Freund, glaub's einem Mann, der mit einem Fuß im Grab steht: Überall sind Widersprüche. Stalin war gut, dann schlecht, und dann wieder gut. Ich war gertenschlank, und jetzt bin ich ein menschlicher Globus, und mein Gürtel ist der Äquator. Jedenfalls solltest du dir wegen einer toten Prostituierten nicht den Kopf zerbrechen. Jeden Tag gibt es neue. Wenn niemand Anspruch auf die Leiche erhebt, wird sie einen Medizinstudenten glücklich machen, und wenn doch, sage ich dir Bescheid. Das war meine letzte Autopsie.« »Schade, dass du versagt hast.«
    Willi sah aus, als habe er eine Ohrfeige bekommen. »Was meinst du damit?«
    »Eine Autopsie wird vorgenommen, um die Todesursache festzustellen. Da hast du versagt.«
    »Arkadi, ich habe gefunden, was da war. Ich kann dir keine Beweise fabrizieren.«
    »Du hast sie übersehen.«
    Der Direktor des Leichenschauhauses erschien mit einer Frau im schwarzem Kopftuch und unterbrach ihr Gespräch. Er war überrascht, als er Willi und Arkadi sah, fasste sich jedoch gleich wieder so weit, dass er die Frau geschmeidig wie ein Oberkellner an den Obduktionstischen entlangführte. Ihr Gang wirkte selbstbewusst. Sie war eine jener Frauen, die aussahen, als seien sie in der Blüte ihres Lebens in Bronze gegossen worden: eine Vierzigjährige, die auf die dreißig zuzugehen schien, mit dunkler Brille und von Seide umschattet. Sie warf Willi und Arkadi nur einen kurzen Blick zu.
    Der Direktor führte sie an den Tisch mit dem Selbstmörder, hüstelte mitfühlend und fragte, ob sie den Leichnam identifizieren könne.
    »Das ist Sergej Petrowitsch Borodin«, sagte sie. »Mein Sohn.«
    Trotz der fahlen Blässe war Sergej Borodin ein hübscher Kerl mit ziemlich langen Haaren, die von der Wäsche noch feucht aussahen. Er war schätzungsweise zwanzig Jahre alt, hatte einen schlanken Oberkörper und war von den Hüften abwärts muskulös. Die Gefühlsregungen seiner Mutter waren hinter den dunklen Brillengläsern verborgen, aber Arkadi vermutete, dass auch Trauer im Spiel war. Sie nahm die Hand ihres toten Jungen und drehte das Handgelenk mit dem entscheidenden Schnitt nach oben.
    Inzwischen erläuterte der Direktor, was es kosten würde, den Totenschein so auszustellen, dass ein Sturz im Badezimmer als Ursache des Ablebens aktenkundig wäre. Die Sanitäter, die den Leichnam aufgefunden hatten, müssten ihren Bericht umschreiben. Dafür würden sie ein Honorar erwarten. Einstweilen dürfe sie den Verstorbenen gern gegen eine Gebühr im Leichenschauhaus einlagern.
    »Ich soll ein Schubfach mieten?«
    »Ein gekühltes Schubfach in dieser Größe ...«
    »Natürlich. Fahren Sie fort.«
    »Unter den Umständen würde ich Ihnen eine großzügige Spende an die Kirche für einen Gottesdienst und ein christliches Begräbnis vorschlagen.«
    »War's das?«
    »Und die Meldebestätigung Ihres Sohnes.«
    »Er hat keine Meldebestätigung. Er war Tänzer. Er hat bei Freunden und anderen Künstlern gewohnt.«
    »Auch Künstler müssen sich an die Gesetze halten. Tut mir leid, aber da wird ein Bußgeld fällig sein.«
    Sie drehte das Handgelenk ihres Sohnes so, dass der Direktor es sehen konnte. »Ich werde nicht lange diskutieren, wenn Sie das hier zunähen.«
    Der Direktor zeigte sich bußfertig. »Das ist kein Problem. Wenn wir sonst noch etwas tun können ... ?«
    »Verbrennen Sie ihn.«
    Eine Pause trat ein und dehnte sich. »Ihn einäschern?«, sagte der Direktor schließlich. »Das machen wir hier nicht.« »Dann arrangieren Sie es.«
    Willi nieste, und es

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