Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
Vom Netzwerk:
Jacke und Bustier wurden mit UV-Licht auf Sperma, Blut und Fingerabdrücke untersucht. Das Resultat war negativ: keine Hämatome, keine Flecken, keine Anzeichen für gewaltsames Eindringen in die Scheide. Ebenfalls keine Anzeichen für eine Strangulation mit bloßen Händen oder einem Hilfsmittel. Helle Hautstreifen an den Fingern deuteten auf kürzliches Entfernen von Ringen am 3., 4. und 5. Finger der linken und am 3. und 4. Finger der rechten Hand hin. Die Verstorbene wies eine oberflächliche Verschmutzung an Händen und Gesicht auf.
    Die Leiche war in exzellenter körperlicher Verfassung. Besondere Kennzeichen: eine Schmetterlingstätowierung auf der linken Hüfte. Keine Narben, Muttermale oder berufsbedingte Schwielen. Keine sichtbaren Verletzungen oder Quetschungen. Keine Abwehrwunden oder andere Kampfspuren. Keine Injektionsnadelspuren. Von durchstochenen Ohrläppchen abgesehen keine Piercings. Unter den Fingernägeln gefundenes Material unauffällig.
     
    Arkadi war mit acht Jahren zum ersten Mal im Leichenschauhaus gewesen. Sein Vater hatte ihn mitgenommen, um ihn abzuhärten. Er erinnerte sich, wie der General einem toten Mann auf den Arsch geklatscht und erklärt hatte: »Der hat unter mir in Kursk gedient!« Manche Leute konnten in ein Leichenschauhaus schlendern und die Obduktionstische inspizieren, als wären sie in einer Gartenausstellung. So viel Kaltblütigkeit hatte Arkadi nie entwickelt. Nach zwanzig Jahren als Ermittler machte ihn eine ausgeweidete Leiche immer noch so verlegen, als habe er jemanden in unbekleidetem Zustand überrascht.
    Als die Rippen aus dem Weg geräumt waren, löste Willi das Herz und die Lunge heraus und legte sie zusammen in einen Eimer, den Arkadi ihm hinhielt. In weitere Eimer kamen andere Organe, nass und glitzernd wie seltsame Meerestiere.
    Oben ging es weiter.
    Veras Haar war dicht und kräftig, doch Willi zog mit einer Haarbürste und einem Kamm einen Scheitel von einem Ohr zum andern, schnitt den Scheitel mit dem Skalpell auf und schälte die obere Hälfte des Gesichts bis zum Kinn herunter. Aus dem roten Schädel blickten verblüffte Augen.
    Während Willi sägte, schweiften Arkadis Gedanken ins Weite. Er dachte an Wodka, an Viktors grenzenlosen Durst und an die halb leere Flasche, die sie bei Vera gefunden hatten. Eine schmutzige Matratze in einem Bauwagen konnte nicht einmal auf eine Prostituierte besonders verlockend wirken. Trotzdem war sie nicht nur auf einen Sprung da gewesen. Vera und ihr Freund hatten eine Flasche aufgemacht und waren lange genug dageblieben, um sich gegenseitig zu betäuben. Einen Toast! Wie trank man sich ohne Gläser zu? Arkadi dachte an die satten Farben und klaren Linien der Tätowierung. Eine professionelle Arbeit, nicht das Werk eines lebenslänglichen Zuchthäuslers, angefertigt mit einer unsterilisierten Nadel und bezahlt mit einer Packung Zigaretten. Zu welcher Spezies gehörte Veras Schmetterling? Der Schriftsteller Vladimir Nabokov war immer von den »Blauen« fasziniert gewesen, von Schmetterlingen, die klein und trist aussahen, bis sie flogen: Dann begannen ihre Flügel zu schillern.
    Willi behob den Schaden wieder. Er verschloss den Brustkorb und nähte die Kopfhaut mit schwarzen Fäden zusammen, obwohl das Mädchen jetzt eine fast leere Hülse war. Ihre Organe lagen in Eimern und Schalen, und das Gehirn schwamm in einem Glas mit Formalin, damit es so fest wurde, dass man es in Scheiben schneiden konnte. Das würde mindestens eine Woche dauern.
    Eine ereignisreiche Nacht für Vera, dachte Arkadi. Erst wurde sie umgebracht und dann auseinandergenommen und wieder zusammengeflickt. Vielleicht lauerten Kannibalen hinter der nächsten Ecke.
    Nassgeschwitzt ließ Willi sich neben dem Tisch auf einen Schemel fallen und tastete mit zwei Fingern nach dem Puls an seinem Hals, sodass Arkadi ein paar Sekunden Zeit hatte, sich um Schenja Sorgen zu machen. War er mit einer Straßenbande unterwegs? Oder auf dem Strich verhaftet worden? Totgeschlagen von einem wütenden Verlierer? Bei Schenja gab es vierundzwanzig Stunden am Tag Grund zur Beklommenheit.
    Willi schüttelte den Kopf. »So regelmäßig wie ein Schweizer Uhrwerk.«
    »Willst du wirklich mitten in einer Autopsie sterben? Wieso rennst du nicht einfach einmal um den Block?« »Ich hasse Sport.«
    Willi griff zu seinem Glas, und diesmal ließ sich Arkadi auch einen Schluck einschenken. Der Alkohol floss sanft hinunter und setzte dann seine Kehle in Brand.
    »Da fehlt Zitrone.«
    Aus

Weitere Kostenlose Bücher