Die goldene Meile
Beunruhigung.
Die Kleine war still, als der Arzt Brust und Rücken abhorchte, doch sie zappelte, als er die Ohren untersuchte, und sie schrie kräftig, als er ihr mit einer Taschenlampe in die Augen leuchtete. Der Arzt forschte in ihrem Mund nach Soor und kontrollierte den Gaumen. Er betastete ihren Bauch und suchte nach Ausschlag, Blutergüssen und Geburtsmalen, und schließlich gab er ihr eine Spritze gegen Hepatitis B, was sie nicht fröhlicher stimmte.
»Das ist ein gut gepflegter Säugling«, stellte der Arzt fest.
»Ist das Kind gesund?«, fragte der General.
»O ja. Nach dieser kurzen Untersuchung würde ich sagen, kerngesund.«
»Haben wir es nicht gesagt?« Wadim sprang auf und schüttelte dem General die Hand. »Herzlichen Glückwunsch, Sie sind Vater!«
»Tatsächlich! Ich fühle mich schon ganz anders!«
»Das ist eine teure blaue Decke. Woher haben Sie dieses Kind?«, fragte der Arzt, aber seine Frage ging im Knallen der Champagnerkorken und im munteren Schreien des Babys unter.
»Eine kräftige Lunge«, stellte Helena fest. »Das ist ein gutes Zeichen. Besser als ein stummes Baby.«
Wadim klatschte in die Hände. »So gewinnen alle. Das Baby findet ein liebevolles Zuhause, und die Mutter kann sich reinen Gewissens ihrer Kunst zuwenden.«
Die Frau bekannte, sie habe Angst, das Kind im Arm zu halten, und alle versicherten ihr, das werde ihr bald zur zweiten Natur werden. Helena und Wadim stießen noch einmal mit allen an, kassierten ihr Geld und verschwanden. Der Arzt ging eine Minute später.
»Tja, jetzt sind wir allein, wir drei«, sagte Kassel. Am nächsten Tag würden sie mit dem Zug zu seinem neuen Posten fahren, zweitausend Kilometer weit, und dort würden sie ein neues Leben als glückliche Familie beginnen.
»Sie lehnt die Flasche ab«, sagte seine Frau.
»Wahrscheinlich wurde sie gestillt. Sie wird sich an die Flasche gewöhnen.«
»Ich kann sie nicht stillen.«
»Natürlich nicht. Deshalb gibt es ja Babynahrung.« »Warum musst du überhaupt vom Stillen anfangen?«
»Ist doch keine große Sache.« »Ist es doch. Sie will zu ihrer Mutter.«
»Sie hat einfach nur Hunger. Sobald sie sich an das Fläschchen gewöhnt hat, ist alles in Ordnung.«
»Sie mag mich nicht.« »Du bist neu für sie.«
»Sieh sie dir an.« Das Baby war puterrot vom Schreien und Strampeln. »Sie hasst mich.« »Du musst sie im Arm halten.«
»Halte du sie im Arm. Warum hast du sie herbringen lassen? Warum ist sie hier?«
»Weil du jedes Mal, wenn wir ein Baby sehen, davon redest, wie sehr du dir eins wünschst.«
»Mein Baby. Nicht irgendein fremdes.«
»Du hast gesagt, du willst eins adoptieren.«
»Irgendein schwachsinniges Balg aus dem Heim?«
»Das ist ein tadelloses Baby.«
»Wenn es ein tadelloses Baby wäre, würde es aufhören zu schreien.«
»Weißt du, wie viel ich für dieses Baby bezahlt habe?« »Du hast für das Baby bezahlt? Das ist, als hättest du eine Katze gekauft.« Und das Baby schrie.
Niemand beschwerte sich, weil die Leute aus den Nachbarwohnungen bei der Arbeit waren. Das Baby schrie, bis es müde war; dann schlief es, und als es wieder zu Kräften gekommen war, schrie es weiter. Für alle Fälle schaltete der General den Fernseher ein und drehte die Lautstärke hoch. Seine Frau setzte eine Schlafmaske auf und ging zu Bett. Keiner von beiden versuchte noch einmal, das Baby zu füttern.
Als das Weinen für einen Augenblick nachließ, stopfte der General die Babysachen in einen Kissenbezug und trug sie zum Müllcontainer im Keller. Als er zurückkam, sah er, dass das Baby auf dem Boden lag, heiser vom Schreien, und seine Frau stand davor und hielt ein Kopfkissen in der Hand.
»Was hast du vor?«, fragte er.
»Ich kann nicht schlafen.«
»Deshalb hast du es woanders hingelegt?«
»Jemand musste es ja tun. Es hört nicht auf zu schreien. Du bist der General. Befiehl ihm aufzuhören.«
»Ich schaffe es weg.«
»Dann los.«
Im Schlafzimmerschrank fand Kassel einen Schuhkarton, in dem noch das Seidenpapier war. Daraus ließe sich ein Bettchen machen. Als wäre es ein Luxus.
Das Baby sah schrecklich aus. Seine Augen waren zugeschwollen, die Nase war von Schleim verstopft. Es keuchte, zitterte, war kleiner geworden. Er legte das Baby in den Karton und klebte den Deckel zu. Beschloss dann, keine Luftlöcher hineinzustechen. Steckte den Schuhkarton in eine übergroße Einkaufstasche und ging zu Fuß die Treppe hinunter, statt den Aufzug zu nehmen, wo er jemandem begegnen
Weitere Kostenlose Bücher