Die goldene Meile
imposante Frau, aber farbenprächtig gekleidet, mit goldenen Ohrringen und hennarotem Haar. Mit dem Korb in der Hand rauschte sie durch den Wartesaal zu ihrem Partner Wadim, der sich ebenfalls verwandelt hatte: Aus einem betrunkenen Soldaten war ein nüchterner Zivilist geworden. Zusammen verließen sie den Bahnhof und gingen quer über einen Platz mit einer Leninstatue zu einem achtstöckigen Wohnhaus mit Blick auf die Drei Bahnhöfe.
Normalerweise zog sie die Nummer als Tante Lena ab, um Mädchen zu angeln. In der Holzklasse fanden sich immer eine oder zwei. Sie machte sie mürbe mit Geschichten über das viele Geld, das man in Moskau verdienen konnte, und zeigte ihnen Fotos von ihr und ihrer »Tochter« vor einem teuren Auto. Warum wollten sie die Langeweile in einem ländlichen Kuhdorf ertragen und Sex an picklige Jünglinge verschenken, wenn sie doch ein Leben voller Glamour in exklusiven Clubs führen konnten, als Hostessen für die reichsten, dynamischsten Männer der Welt? Und dann kam Wadim dazu, entweder als Bedrohung oder als Freund in Not; er konnte beides spielen.
Das mit dem Baby war reines Glück gewesen. Wadim hatte sich mit einem General Kassel betrunken, und der hatte ihm anvertraut, seine Frau mache ihn verrückt mit ihrem Wunsch nach einem Baby. Kein Baby aus dem Heim und keinen krankheitsverseuchten vierjährigen Straftäter, sondern ein richtiges Baby. Wenn möglich, eins ohne Geburtsurkunde oder Vergangenheit. Der General sollte auf einen neuen Posten versetzt werden, zweitausend Kilometer weit von dem alten entfernt. Es wäre schön, wenn sie dort ankommen könnten, ohne den Leuten den wundersamen Zuwachs durch ein Neugeborenes erklären zu müssen. Die Summe, die der General nannte, war astronomisch. Bestenfalls hatten Helena und Wadim auf ein schwangeres Mädchen gehofft, dem seine Freiheit und etwas Geld in der Tasche lieber wäre als die Aussicht darauf, einen Kinderwagen mit einem sabbernden, quäkenden Baby vor sich herzuschieben. Maja war eine Traumkandidatin.
»Ich sage dir, wie es laufen wird. Die neuen Eltern werden die Ware prüfen - das ist normal -, aber sie werden Fläschchen, Windeln und Rasseln bereithalten, damit sie sofort Mama und Papa spielen können. Das Ganze dauert eine Viertelstunde. Sie werden nicht wollen, dass wir uns lange bei ihnen aufhalten.«
Im Aufzug fragte Wadim, ob die Windeln des Babys sauber seien.
»Ja. Und sie ist ein schönes Baby. Der General und seine Frau dürften sehr zufrieden sein.« »Und wenn es eine Falle ist?«
»Du bist immer so nervös. Dieses Mädchen wird nicht zur Polizei laufen. Sie ist auf der Flucht. Sie ist unser Lottogewinn. Ein gesundes Baby ohne Papiere? Das offiziell überhaupt nicht existiert? Davon gibt es eins unter einer Million.« Als das Baby unruhig wurde, lächelte Helena nachsichtig. »Unser goldenes Baby.«
Die Kassels warteten in einer Wohnung im vierten Stock; sie gehörte Freunden, die in Urlaub gefahren waren. Der General begrüßte Wadim und Helena mit einer Leutseligkeit, die über seine schweißfeuchte Stirn nicht hinwegtäuschen konnte. Er hatte einen Arzt kommen lassen - ganz so, wie ein vernünftiger Mann ein gebrauchtes Auto von einem Mechaniker begutachten lässt, bevor er es kauft.
Die Frau des Generals nagte an ihren Fingerknöcheln. Die Kuppen der Finger waren schon blutig.
»Du hättest mir früher Bescheid sagen müssen«, sagte sie. »Alles ging so schnell, und morgen reisen wir schon ab.«
Aber sie hatte Windeln und ein Fläschchen vorbereitet. Es war alles da, wie Helena es vorausgesagt hatte, sogar die Rassel.
Der Arzt warnte die Kassels: Sie sollten sich keine allzu großen Hoffnungen machen. Normalerweise hatte es Gründe, wenn jemand ein Baby abgab. Die Chancen, dass ein Findelkind nicht verletzt oder krank war, waren gering.
Helena öffnete den Korb. »Sehen Sie selbst.«
Während der Arzt das Kind auswickelte, versuchte Wadim den General und seine Frau mit Lügengeschichten über die Herkunft des Babys zu unterhalten. Die Mutter, eine junge Ballerina, sei gezwungen gewesen, sich zwischen Kind und Karriere zu entscheiden. Irgendwann verstummte er, als er merkte, dass niemand ihm zuhörte. Alle beobachteten aufmerksam die Untersuchung.
Das menschliche Gesicht ist eine Landkarte. Form, Größe und Sitz der Ohren können auf ein bestimmtes Syndrom hinweisen, der Abstand zwischen Augen, Mund und Nase auf ein anderes. Oder auf einen genetischen Schaden. Aber noch gab es keinen Grund zur
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