Die goldene Meile
fand er, hatte er seine Sache ganz gut gemacht. Die Erinnerung an das Baby begann schon zu verblassen.
Bei Sonnenaufgang fiel ein halbes Dutzend kleiner Straßenkinder in einen 24-Stunden-Supermarkt ein, der in derselben Straße wie das Polizeipräsidium lag. Sie schwärmten hinein wie eine Horde Mäuse, machten einen Riesenwirbel, stopften sich Gläser mit spanischen Oliven und Dosen mit Thunfisch in die Taschen und wühlten mit ihren schmutzigen Händen in Bio-Obst und Avocados. Manchmal hatten sie es auf Eiscreme abgesehen, an anderen Tagen auf irgendein Aerosol zum Schnüffeln.
Überwachungskameras versuchten ihnen zu folgen, obwohl erwachsene Männer und Frauen, die obdachlose Sechsjährige jagen, kein schönes Bild abgeben. Das Personal verscheuchte die Kinder so diskret wie möglich und machte dann eine kurze Bestandsaufnahme der gestohlenen Waren. Es waren lauter Kleinigkeiten, die keine Anzeige bei der Polizei wert waren: Schnittbrot, Erdbeermarmelade, Limonade, Müsliriegel, Babynahrung, Windeln und ein Milchfläschchen.
ACHTZEHN
Nichts war jemals so, wie es aussah. Maja hatte das Gesicht eines Engels, aber als Schenja die Augen öffnete, war sie weg, und sein Geld mit ihr.
Es war lächerlich. Er durchsuchte das Kasino, den Zählraum und die Zimmer der Security, die Toiletten und den Aufenthaltsraum der Croupiers. Er flüsterte Majas Namen und stöberte zwischen den Spielautomaten, den einarmigen Kremlwächtern, als hätten diese sie zu irgendeinem wüsten Gelage in einem Turm verschleppt. Aber nirgends fand er die Spuren eines Kampfes, kein Stapel Chips war umgefallen, nicht eine einzige Perle aus den Kronjuwelen gerollt. Er versuchte weiterzuschlafen, doch seine Wut war wie ein Streichholz, das jemand vor dem Spiegel angerissen hatte, und er sah, was für ein Trottel er gewesen war. Luder!
Sie hatte den Bauernfänger zum Gimpel gemacht. Nicht, dass zwischen ihm und Maja irgendetwas Romantisches oder Sexuelles im Spiel gewesen wäre. Das hätte er sich nicht angemaßt. Aber er hatte geglaubt, sie wären ein gutes Team. Er brachte Moskauer Know-how und Verstand mit, und Majas Beitrag bestand aus körperlichem Wagemut, sexueller Erfahrung und, weil sie eine Mutter war, Erwachsenheit. Immer vorausgesetzt, dass sie wirklich Maja hieß, dass es wirklich ein Baby gab oder dass überhaupt etwas stimmte von dem, was sie erzählt hatte.
Wo war sie jetzt? Vor seinem geistigen Auge sah er Maja und Jegor in einem Bett mit zerwühlten Laken. Als er Jegors Grunzen und ihr gefügiges Wimmern hörte, hielt er sich die Ohren zu. Vielleicht wollte Jegor ihr auch zeigen, wer der Boss war, und besorgte es ihr brutal auf dem Kotflügel eines Autos. Schenja hatte nicht geahnt, wie masochistisch seine Phantasie war. Es war, als hätte er ein Haus angezündet und wäre freiwillig in den Flammen sitzen geblieben.
Aber es gab ein eher praktisches Problem. Wenn Maja die Seiten gewechselt hatte, würde sie Jegor ganz sicher vom Kasino erzählen. Allein der Alkoholvorrat im »Peter der Große« war ein paar tausend Dollar wert. Jegor würde abschleppen, was er tragen, und zertrümmern, was er nicht tragen könnte, und das wäre eine Schande, denn so ein Kasino besaß eine gewisse Vollkommenheit. Der gebürstete Filz der Spieltische. Die säuberlich nach Farben sortierten Stapel der Chips. Die neuen Würfel. Die versiegelten Kartenpäckchen.
Den Tag verbrachte er damit, auf die Nacht zu warten. Er sah zu, wie die Wolken dick und dunkel wurden, und dachte daran, wie er als Vierjähriger zusammen mit den anderen Heimkindern in einen Streichelzoo geführt worden war. Die einzigen Tiere, die Schenja hatte streicheln wollen, waren die Schafe gewesen, denn in den Kinderbüchern wurde ihr Fell immer als so weich und weiß beschrieben. Aber in Wirklichkeit war es grau und fettig und von Scheiße verklebt. Lange Zeit hatte er geglaubt, Wolken seien genauso.
Tagsüber konnte Jegor überall unterwegs sein, aber abends war er zuverlässig am Lubjanka-Platz zu finden. Die Lubjanka selbst füllte eine ganze Seite des Platzes aus, ein hübsches, achtgeschossiges gelbes Klinkergebäude, sanft beleuchtet wie von Votivkerzen. In früheren Zeiten hatten jede Nacht Lieferwagen, als Brotautos getarnt, mit ihrer Ladung vor der Lubjanka angehalten: mit verwirrten Professoren, Ärzten, Dichtern und Parteimitgliedern, denen man vorwarf, Auslandsagenten zu sein, Schädlinge, Saboteure.
Niemand hielt sich vor der Lubjanka auf; man ging
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