Die goldene Meile
Hornissennestern. Boris musste jetzt fast neunzig sein. Wenn er merkte, dass Arkadi da war, tauchte er geschäftig wie ein Biber an der Haustür auf, mit einem langen Schal um den Hals und einer Schüssel Gurken und Tomaten. Und einem Krug Samogon. Schwarz gebranntem Schnaps. Arkadi ließ ihn immer auf ein Gläschen ins Haus kommen. Mit glänzenden Augen schenkte Boris den Samogon ein, bis die Oberflächenspannung den Schnapsspiegel über dem Glasrand zittern ließ.
»So ein kleines Glas«, sagte er dann jedes Mal. Nachher spazierten sie zur Kirche und besuchten das Grab seiner Frau. Der Friedhof war ein Labyrinth aus weißen Kreuzen und schwarzen Eisenzäunen, und manche Gräber waren so eingezwängt, dass man sie gar nicht mehr erreichen konnte.
Boris stellte stets ein Glas mit Stiefmütterchen oder Gänseblumen vor das Kreuz seiner Frau. Er wechselte die Blumen jeden Tag aus. Neben dem Grab stand eine Bank, sodass man hier richtig zu Besuch kommen konnte. Man brauchte nicht laut zu reden. Im Winter, dachte Arkadi, war es wie Eisfischen mit Gott. Aber es gab Zeiten, da fühlte er sich eins mit der Welt; sein Atem war eine Wolke, und die Birken streiften einander wie eine Reihe von Tänzerinnen, die verschiedene Ballettpositionen einnahmen.
Und jetzt war klar, warum Vera in Position vier auf die Matratze gelegt worden war, nicht in Position eins.
Weil sie die Vierte in der Reihe war.
Die Scheibenwischer fuhren hin und her. Rechts, links, rechts, links. Er sprach es leise aus. »Position fünf.«
ZWEIUNDZWANZIG
Maja sah sich auf einer glänzenden Rolltreppe, die bis zu den Wolken hinaufreichte. Ihr Baby war nur ein paar Stufen über ihr. Aus irgendeinem Grund konnte Maja den Abstand nicht verringern, und sie konnte auch nicht sehen, was sie da oben erwartete. Aber sicher war es besser als das, was sie zurückgelassen hatten.
»Wie alt bist du, mein Schatz? In Pakistan wärst du schon verheiratet und hättest ein Baby auf der Hüfte. Deine Brüste sind voll. Das ist erregend für einen Mann, aber überlass das Stillen und die Schweinerei einer anderen. Nein, lass mich dich ausziehen. Das ist mir ein Vergnügen. Ich werde alles säuberlich zusammenfalten. Mein Gott, du wirst mit jedem Augenblick schöner. Unser gemeinsamer Freund Jegor hat nicht übertrieben. Gefällt es dir hier? Es ist ein Büro, das einem anderen Freund gehört, einem sehr wichtigen Mann. Ein Pakistani, aber das Sofa ist sehr bequem, findest du nicht? Hübsche Bilder an den Wänden, wenn du sie sehen könntest. Alles total modern. Champagner auf Eis. Minibar. Möchtest du etwas trinken? Liegt bei dir. Heute ist Sonntag, und wir haben die ganze Nacht und das ganze Gebäude für uns. Dein rasierter Kopf wirkt sonderbar erotisch, als hättest du alles für mich entblößt. Wie du siehst, kann ich nicht verbergen, dass ich nicht besonders gut in Form bin. Als ich vor fünfundzwanzig Jahren als Student nach Russland kam, war ich dünn wie ein Spargel. Das macht die russische Küche. Meine Frau, Gott segne sie, ist eine erbärmliche Köchin. Ich nenne sie meine Frau, obwohl wir eigentlich nicht verheiratet sind. Ich weiß nicht, was die Russen gegen Gewürze haben. Außerdem trainiere ich nicht genug. Ein Mann mit meiner Figur sollte trainieren. Das ist seine Pflicht, denn sonst wird er so fett wie ich. Aber ich muss Tag und Nacht im Kiosk sein, sonst klauen meine Angestellten mir das letzte Hemd. Sieh dir das an. So hart war ich seit zehn Jahren nicht mehr. Hast du was dagegen, wenn du geküsst wirst? Ich drehe das Licht herunter, und du kannst so tun, als hättest du Sex mit dem schönsten Mann der Welt. Wenn du mich anfasst, werde ich explodieren. Wirklich, wirklich. О nein, о nein, о nein. Siehst du? Das kommt, wenn man es zu lange entbehrt. Aber ich habe noch etwas übrig. Ich gehe rasch aufs Klo und bin gleich wieder da. Gib mir eine Minute Zeit. Es wird gleich noch besser. Nicht mehr so dringend.«
Als er auf bloßen Füßen den Flur hinuntertappte, pfiff er »Whistle While You Work« vor sich hin. Alle in der Stadt pfiffen dieses Lied; es lag in der Luft. In der Herrentoilette wischte er sich ab, kniff in die Speckrolle auf seinen Hüften und lächelte strahlend in den Spiegel, um seine Zähne zu begutachten. Die Unterbrechung störte ihn nicht. Im Gegenteil - je länger, desto besser. Sein Penis hing herunter, schlaff, aber unbesiegt, dachte er.
Das Licht im Büro war immer noch gedämpft, als er zurückkam, und er bewegte sich
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