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Die goldene Meile

Die goldene Meile

Titel: Die goldene Meile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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aufriss. Er zog die Plastikfolie durch einen Schlitz im Karton und drückte sie an eine metallene Sägezahnkante. Wo waren die Lebensmittel?, fragte Ali sich.
    »Bist du schon mal eingewickelt worden?«, fragte Mr. Big.
    »Eingewickelt?«
    »Das war wohl ein Nein. Es ist ganz einfach. Ich werde dich fragen, wo wir dieses Mädchen und ihr Baby finden. Wenn du uns keine Antwort oder eine falsche Antwort gibst, wickeln wir deinen Kopf ein.«
    Das waren alles Einschüchterungstaktiken, dachte Ali. So etwas tat niemand.
    »Wir machen es dir vor. Neigst du zu Platzangst?«
    »Nein.«
    »Das werden wir sehen.«
    Sie mussten beide Hand anlegen; der eine hielt das erste Stück Klarsichtfolie fest, und der andere ging mit der Schachtel außen herum und wickelte die Folie von der Rolle. Ali konnte durch die glasklare Folie hindurchsehen und die ganze Operation verfolgen, denn sie spiegelte sich im Bürofenster. Er war von der Außenwelt abgeschnitten, und er nickte, um zu zeigen, dass er begriffen hatte, worum es ging, aber sie wickelten immer mehr Folie ab, bis er vom Hals bis zur Schädeldecke damit eingehüllt war.
    »Es ist wichtig, jetzt nicht in Panik zu geraten«, sagte Mr. Little. »Je schneller dein Herz schlägt, desto mehr Sauerstoff verbrauchst du.«
    Die straffe Folie schmiegte sich an die Konturen seines Gesichts. Er wollte protestieren: Das sei mehr als eine Demonstration. Aber die Folie klebte auf seinem Mund. Das Spiegelbild im Fenster sah aus, als trage er einen silbernen Helm, und er schwankte hin und her.
    »Ali, du musst dich entspannen! Du hast noch fünf Minuten.«
    Fünf Minuten? Sie haben sich geirrt! Sie müssen gedacht haben, ich hätte die Luft angehalten! Nein, nein, nein, nein! Er sträubte sich so wild, dass er sich mitsamt dem Stuhl erhob. Sein Kinn schlug auf die Brust. Er spürte, wie seine Lunge und seine Brust zusammenfielen, ein Tosen erfüllte seine Ohren, und ihm wurde schwarz vor Augen.
     
    Als Ali wieder zu sich kam, saß er in Handschellen auf dem Stuhl, aber die Plastikfolie war nicht mehr da. Sie lag zusammengeknüllt im Papierkorb.
    »Kann man wegwerfen«, sagte Mr. Little.
    Mr. Big sagte: »Wer braucht schon eine Streckbank oder die spanische Inquisition, wenn in der Küche eine Rolle Klarsichtfolie liegt?« Es war eine philosophische These, keine Frage.
    »Möchtest du einen Schluck Wodka?« Mr. Little schüttete ihm den Wodka in den Mund, als fülle er einen Benzintank. Ali trank mit gierigen Schlucken, um sich zu betäuben.
    »Zurück zum Geschäftlichen«, sagte Mr. Big. »Wo ist das Mädchen hin?«
    »Bitte, ich habe eine Familie, ich habe kleine Kinder und alte Eltern in Pakistan, die niemand sonst unterstützt.«
    »Du verkommenes Stück Scheiße. Was hast du mit deiner kleinen Nutte gemacht - Briefe nach Hause geschrieben?«
    »Ich war schwach. Ich bin in Versuchung geraten und gefallen.«
    »Wohin könnte sie gehen?«
    »Ich schwöre, ich weiß es nicht.«
    »Deine letzte Chance.«
    »Bitte!«
    Mr. Little riss ein Stück Folie von der Rolle. Als die Folie Alis Wange berührte, sprang er mit dem Stuhl in die Höhe.
    »Das Genie. Alle nennen ihn das Genie, aber er heißt Schenja. Seinen Nachnamen kenne ich nicht, aber manchmal ist er mit einem Ermittler der Staatsanwaltschaft zusammen, der Renko heißt.«
    »Und wo?«
    »Der Junge ist immer bei den Drei Bahnhöfen. Sie können ihn nicht übersehen; er läuft in den Wartesälen herum und animiert Leute zum Schachspielen. Ich zeige ihn Ihnen. Sie brauchen mich nicht noch mal einzuwickeln.«
    »Dich einwickeln? Wie denn, wie ein übrig gebliebenes Stück Käse? Du denkst wohl, wir sind verdammte Barbaren.«
    »Nein, eigentlich nicht, aber ... ich weiß nicht, was ich denke.«
    Mr. Big klopfte Ali auf den Rücken. »Du hättest dein Gesicht sehen sollen.«
    Ali lachte. Er war ein bisschen wacklig auf den Beinen, als sie ihm die Handschellen abgenommen hatten, und beim Anziehen war er ungeschickt, weil er den Wodka getrunken hatte. Und weil er, als er sich nach seinen Schnürsenkeln bückte, am Stiefelabsatz von Mr. Little etwas zu sehen glaubte, das aussah wie ein Fetzen Kopfhaut mit blutigen Haaren. Ali lachte, bis ihm die Tränen kamen.
     

DREIUNDZWANZIG
    Arkadi und Viktor saßen vor einem Laptop, der auf Viktors Schreibtisch stand, und durchsuchten die Liste der Toten. Davon gab es viele, denn jedes Jahr starben mehr als zwölftausend Moskowiter eines unnatürlichen Todes.
    Weiblich, 32, Transportarbeiterin, Überdosis am

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