Die goldene Meile
fragte Arkadi den Kellner, ob er je einen halbwüchsigen Jungen im Bahnhof gesehen habe, der Leute zum Schachspielen animierte.
Der Kellner beugte sich nachdenklich vor.
»Ein dünner Junge?«
»Ja. Er heißt Schenja.«
»Ich kenne keinen Schenja. Der, den ich meine, wird >Genie< genannt.« »Das haut hin.«
»Er geht dauernd im Bahnhof ein und aus.« »War er heute da?«
»Nein. Vielleicht hat er sich einen freien Tag genommen. Hatte hier großen Krach mit seiner Freundin. Gestern Abend. Gleich hier.«
Arkadi war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Eine Freundin?«
»Eine Schönheitskönigin.« »Er hat eine schöne Freundin?« »Mit einem kahl rasierten Schädel.«
»Mit einem kahl rasierten Schädel auch noch?« Der Schenja, den Arkadi kannte, trieb sich nicht in derart trendiger Gesellschaft herum. Tatsächlich trieb er sich mit überhaupt niemandem herum. »Ich glaube, wir reden von zwei verschiedenen Jungen.«
Der Kellner zuckte die Achseln.
»Eine Schande. Sie war ein Hingucker, aber, wie gesagt, auch ein echtes Luder.«
Wegen des Regens war die Zahl der Stände vor dem Bahnhof auf ein paar verzweifelte wenige zusammengeschrumpft. Aufgequollene Schachtelpuppen klebten an den Tischen fest.
Spielzeughasen mit halb leeren Batterien humpelten darauf herum. Euch geht's genau wie mir, dachte Arkadi.
Er wusste, er sollte seine eintägige Schonfrist nutzen, um Fürsprecher zu finden. Aber die Vorstellung, irgendjemanden um ein paar lobende Worte anzubetteln, ließ ihn aufstöhnen. War er habgierig? Was brauchte er zum Leben? Zehntausend Dollar? Hunderttausend? Er fragte sich plötzlich, wie viel Geld wohl in eine Sporttasche passen mochte.
Straßenkinder erschienen von nirgendwoher, Jungen mit großspurigem Auftreten und leerem Magen, Mädchen in geflickten Kleidern. Ein paar hatten Klebstoff geschnüffelt und stierten stumpfsinnig vor sich hin, doch die meisten drängten sich um Anja wie Katzen um eine Schale Milch.
Einige zögerten, als Arkadi auftauchte. Aber Anja sagte hastig: »Oh, das ist mein Freund Arkadi. Der guckt immer so misstrauisch. Keine Sorge, er geht gleich wieder.«
Sie zog den Reißverschluss an ihrer Tasche auf und spreizte sie weit auseinander. Arkadi sah Müsli-Riegel, Verbandsmaterial, Kondome, Seife und Wollsocken.
»Zufrieden? Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein bei zwanzigtausend obdachlosen Kindern in Moskau. Es geht eher darum, ihnen zu zeigen, dass sich jemand um sie kümmert. Die Waksberg-Stiftung gibt ihnen Kleidung, Decken, Schlafsäcke. Alles ohne Verpflichtung, nur dass an jedem Gegenstand eine Karte mit unserer Adresse und Telefonnummer hängt, für den Fall, dass sie wieder in die Welt zurückkehren wollen. Das wollen nicht viele. Die meisten sind aus Familien geflüchtet, die vom Alkohol ruiniert wurden. Ihre Eltern sind Trinker, und die Kinder werden Trinker oder Junkies werden. Wenn man einmal auf der Straße lebt, ist es schwer, das wieder zu ändern. Aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich habe noch ein paar zehnjährige Mädchen zu beraten - zum Beispiel, wie man einem erwachsenen Mann ein Kondom über den Schwanz zieht.« Für Arkadi hatte sie auch einen Rat. »Gehen Sie weg.«
Die Scheibenwischer fuhren hin und her, aber Arkadi saß in dem Lada und fuhr nirgendwohin. Er hatte den Eindruck, dass er früher viel intelligenter gewesen war. Spuren und Hinweise, die er sonst im Vorüberfliegen aufgefangen hatte, schwirrten jetzt einfach an ihm vorbei. Wie Vera, das Mädchen aus dem Bauwagen. Sie war in Rauch aufgegangen und konnte sich nicht mehr beschweren.
Das war für ihn die Gelegenheit, einen neuen Anfang zu machen. Er hatte sich schon immer für Astronomie interessiert. Es gab Antimaterie zu erforschen. Die Stringtheorie war zu korrigieren. Asteroiden musste ausgewichen werden.
Oder er konnte sich einem Leben des Hedonismus hingeben. Neue Kleider kaufen. Neue Freunde finden, die er nicht aus der Ausnüchterungszelle holen musste. In exotische Gegenden reisen und mit fremdartigen Speisen kämpfen.
Noch besser: Er konnte in die Datscha fahren.
Die Datscha, die sein Vater ihm vererbt hatte, lag nicht mehr als zwei Stunden weit entfernt. Eine baufällige Hütte, von Flieder und Brombeeren überwuchert, aber es gab Quellwasser, und zwischen ein paar Schwarzkiefern führte ein Pfad zu einem See, der kaum größer als ein Teich war. Ein alter Nachbar schaute von Zeit zu Zeit vorbei und sah nach undichten Stellen oder
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