Die Goldmacherin Historischer Roman
ihm gähnte ein dunkles Loch im Geröll.
»Da schlafen wir.«
Aurelia fühlte die ersten Tropfen kalten Regens auf ihren Mantel fallen. »Hinein, schnell.«
Die Kinder hatten in den vergessenen, überwucherten Feldmauern einen der alten Unterstände gefunden, wie die Grundherren sie für die Fronarbeiter hatten errichten lassen.
Sogar trockene Blätter hatten die Kinder hineingeschafft. Endlich waren sie windgeschützt.
Draußen prasselte der Novemberregen auf die Ranken. Aus dem Dunkeln zog Beppo einen Fetzen aus Hanf herbei. »Wir haben kein Messer, du musst abbeißen.« Er schlug den Stoff auf. Es roch wunderbar nach Käse.
»Ist der herrlich!«, rief Aurelia mit vollem Mund. Das feste Stück schmeckte so würzig und so sehr nach einem wirklichen Leben, das sie einmal gekannt hatte, dass sie vor Freude lachen musste. Sie nahm zwei Bissen, dann reichte sie den Käse weiter. So viel hatte sie schon lange nicht mehr zu essen gehabt. Und wenn es doch noch Hoffnung gäbe … Aurelia kaute lange, bis der Käse auf ihrer Zunge zu einem wunderbaren Schmelz zergangen war.
»Darf Gundi unter deinen Mantel?«, fragte der Knabe.
Was auch immer sich die heilige Ursula gedacht haben mochte, sie hatte ihr die Kinder als Schutzbefohlene geschickt. »Ja«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Und du auch.«
Im Dunkeln kuschelten sie sich aneinander.
Seltsam, dachte Aurelia noch, als sie der Schlaf erfasste, wie viel leichter es doch war, wenn man nicht allein ums Überleben kämpfen musste …
10
B eppo konnte es auf den Feldwegen mit jedem Wachhund aufnehmen: Sein Gehör war so fein, dass er sie vor anderen Leuten warnte, lange bevor Aurelia ihrer ansichtig wurde.
Sie verheimlichte vor den Kindern, wie gefährlich die Wege waren, wenn man keine Waffen trug. Die Erinnerungen quälten Aurelia. Und auch wenn sie mit Beppo und Gundi langsamer vorankam, hatte sie die beiden gleich liebgewonnen, weil sie sie ein wenig ablenkten.
Die Verantwortung für die beiden ließ Aurelia für den Augenblick vergessen, dass sie alle verloren hatte, die sie liebte. So gab es wenigstens immer etwas zu reden, sie sangen Lieder oder Aurelia erklärte den beiden, welche Wurzeln essbar waren und welche giftig. Den Käse und ein Ranft Brot hatten sie schnell aufgezehrt. Im Unterstand hatte sie sich nur zwei Tage ausgeruht, bis Gundi wieder laufen konnte. Die Kinder waren einfach bei Sonnenaufgang mitgegangen, als Aurelia los wollte.
Beppos und Gundis Eltern waren bei einem Überfall auf Algesheim im brennenden Haus von den herabstürzenden Balken erschlagen worden. Dem Vater, einem Stellmacher, hatten die Landsknechte das Dach angezündet. Aber womit hätte der arme Mann sich wehren sollen, wenn ihm schon das Heer des Bischofs von Mainz alle Werkzeuge, Äxte und Spieße geraubt hatte?
Die beiden Kleinen hatten eigentlich zu Fuß zur Großmutter ins nächste Dorf hinter dem Hügel gewollt, aber dort fand sich keiner mehr, den sie kannten. Die Leute waren in den
Wald geflohen. Wo sich die beiden leider auf der Suche dann verlaufen hatten.
»Können wir nicht einen Vogel fangen?«, fragte Beppo. Seine Zahnlücke war deutlich zu sehen. »Die kann man auf einem Stecken braten.«
Fleisch … einen Augenblick umwehte Aurelia der eingebildete Duft.
»Vögel fliegen doch viel zu hoch«, sagte Gundi müde. Sie wollte nicht bei der Hand gefasst werden und lief meist ein paar Schritte hinter Aurelia und Beppo.
»Nicht aus der Luft fangen, aus dem Nest«, erklärte Beppo ernst.
»Die Eier vielleicht.« Gundi klang halb überzeugt.
Die Kinder dachten vor lauter Hunger nur ans Essen. Aurelia seufzte. »Da haben wir Pech. Im Herbst sind die Vögel alle ausgeschlüpft, da gibt es keine Eier mehr. Die meisten fliegen auch weit, weit weg nach Süden.« Sie zeigte zum waldigen Himmelsrand, wo der Donnersberg aufragte. »Dahinter und noch viel weiter.«
»Dann müssen wir die Raben fangen.Vater hat so Fallen aus Holz gebaut.« Beppo deutete mit den Händen die ungefähren Maße einer solchen Falle an. »Aurelia, können wir das auch mit Stöcken machen?«
So ging das stundenlang. Und doch war Aurelia froh darüber, weil sie so lange nicht an Romuald und ihr Schicksal denken musste.Wenn sie und die Kinder ein paar wilde Rübchen fanden und der Hunger nicht mehr gar so garstig drückte, dann fragten die beiden sie aus. Über Mond, Sonne und Sterne, über eine blaue Glockenblume, die noch im November unvermittelt am Wegesrand blühte. Oder sie träumten
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