Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
einen kurzen Moment lang seine Hand berühren zu können. Es war nicht schicklich, auf diese Weise an ihn zu denken. Ich bin noch in der Trauerzeit, ermahnte sie sich in Gedanken, während sie Baldos Hände aus den Augenwinkeln besah. Nach dem Essen erhob er sich, um eine der Küchenschwestern nach etwas Futter für Lump zu fragen.
Cristin gab Janek einen liebevollen Klaps. »Geh ruhig mit ihm. Lump wird sich über deine Gesellschaft freuen.«
Der Junge nickte nur, aber ihr entging das kurze Aufleuchten seiner Augen nicht, und sie sah ihnen nach.
»Was geht in dir vor, Schwesterchen?« Piet steckte sich den letzten Bissen Brot in den Mund und nutzte die seltene Gelegenheit, mit ihr allein zu sprechen.
»Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, unsere Suche nach Lukas’ Mörder ist sinnlos.« Sie fing seinen Blick ein und senkte die Stimme. »Wir haben noch immer keine Spur. Nichts von dem, was ich glaube, kann ich beweisen. Vergeuden wir nicht unsere Zeit, Piet?«
Ihr Bruder beugte sich vor und öffnete den Mund, als plötzlich Unruhe entstand. Einige Schwestern fanden sich im Refektorium ein, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten mit vor Aufregung geröteten Wangen miteinander. Mehrmals meinte sie, die Worte Krol Jadwiga zu verstehen. Eine wohlbeleibte Schwester stand in der Tür des Saales und ruderte aufgeregt mit den kurzen Armen.
Cristin sah Piet an. »Was sagt sie?«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, ist ihre Königin auf dem Weg nach Slupsk. Schon heute Nachmittag will sie sich das Spital ansehen!«
Die polnische Königin kam in dieses Spital? Auf einmal glich das Haus einem Bienenstock, von überallher erklangen Stimmen und eifrige Schritte. Flugs wurden Befehle erteilt, um alles für die Ankunft des hohen Gastes vorzubereiten. Die Schwester steuerte auf Cristin und Piet zu und redete auf ihn ein. Es hatte sich wohl herumgesprochen, dass er ihre Sprache verstand.
»Was sagt sie?«, wollte Cristin wissen.
»Sie benötigen unsere Hilfe, deshalb bittet uns der Spitalmeister zu bleiben«, erklärte er. »Wir brauchen unser Essen und das Nachtlager nicht zu bezahlen und dürfen uns gern noch ein paar Tage hier aufhalten. Dafür müssen wir mithelfen, hier sauber zu machen und aufzuräumen, bevor die Königin eintrifft.«
»Wenn wir nicht zu bezahlen brauchen, warum nicht?« Das Angebot kam tatsächlich wie gerufen, somit waren sie ihre Sorge, wo sie mit Janek die nächsten Tage und Nächte bleiben sollten, zunächst los . »Sag ihr, wir bleiben gern«, bat Cristin, »und frag sie, was wir tun können.«
Piet nickte und sprach einige Zeit mit der Schwester.
»Sie bedankt sich vorab für unsere Hilfe«, übersetzte er dann. »Janek soll die Kaninchen- und Hühnerställe ausmisten. Du könntest den Frauen in den Krankensälen zur Hand gehen, schlägt sie vor. Auf mein Angebot, die Kranken bis zur Ankunft der Königin mit meinen Späßen zu unterhalten, ist sie leider nicht eingegangen.«
Cristin lachte, während die Schwester sich umdrehte und den Raum verließ.
Piet schnitt eine Grimasse. »Sie möchte stattdessen, dass Baldo und ich den Gartenzaun und das Dach des Ziegenstalls reparieren.«
»Tja, mein Lieber«, lächelte Cristin. »Das ist nun mal Männerarbeit.«
Mit diesen Aufgaben waren die vier die nächsten Stunden beschäftigt, bis es endlich hieß, die Königin sei nun in der Stadt und werde das Spital in Kürze besuchen.
Die Ankunft der polnischen Regentin war ein großes Ereignis. Türen und Fenster der zwei- und dreistöckigen Backsteinhäuser, die die Straße zum Spital säumten, waren weit geöffnet. Darin standen und saßen Männer, Frauen und Kinder in ihrem Sonntagsstaat, viele hielten bunte Fähnchen in den Händen und schwenkten sie. Überall herrschte erwartungsvolle Spannung. Baldo, Piet und Cristin waren mit den Schwestern vor das Spitaltor getreten und standen am Straßenrand inmitten der jubelnden Menge. Der Junge hockte auf Baldos breiten Schultern, um besser sehen zu können.
Während um sie herum die ersten Hochrufe erschollen, wandte sich Cristin an Schwester Zofia, die neben ihr stand.
»Eure Herrscherin ist wohl sehr beliebt beim Volk.«
Die junge Frau nickte, ohne den Kopf zu wenden. »Krol Jadwiga nicht nur schön und klug, sie auch Herz für Arme und Kranke …« Sie beendete den Satz nicht und reckte stattdessen den Hals. »Da ist sie.«
Die polnische Königin saß kerzengerade auf einem prächtigen Rappen, den sie mit nur einer Hand lenkte,
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