Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerit Bertram
Vom Netzwerk:
Sein Gesicht war ernst und wirkte nicht wie das eines zehnjährigen Kindes.
    »Du bist doch ein tapferer Junge, habe ich recht?« Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Janeks Augen weiteten sich.
    »Du weißt, deine Mutter war verletzt. Sie ist …« Cristin brach ab. Wie sagte man einem Kind, dass seine Mutter tot ist? Mit diesem einen Satz würde sie den Rest seiner Kindheit für immer zerstören. Sie fühlte, wie er sich in ihren Armen versteifte. Was sollte jetzt aus ihm werden? Ob er überlebende Verwandte hatte, wusste sie nicht. Sie konnte ihn nicht sich selbst überlassen, doch behalten konnten sie ihn genauso wenig, auch wenn sie der Sterbenden versprochen hatte, für ihren Sohn zu sorgen. Das Leben, das sie führte, war zu gefährlich für einen kleinen Jungen. Er brauchte Fürsorge und die Gewissheit, dass jemand für ihn da war.
    Der Junge starrte sie an. »Matka?«, flüsterte er. Er schien sie zu verstehen.
    »Matka, ja. Sie hat nicht überlebt, Janek. Es tut mir so leid …«
    Der Junge schluchzte laut auf, seine schmalen Schultern bebten. »Moje Matka! Moje Matka!«, rief er aus. Im nächsten Moment sprang er auf und rannte zwischen zwei mächtigen Buchen hindurch auf das umgepflügte Feld zu, das zwischen dem Wäldchen und dem zerstörten Dorf lag.
    »Nein«, rief Baldo. »Du darfst nicht dorthin zurück!«
    Mit angehaltenem Atem beobachtete Cristin, wie der Junge über das Feld lief. Baldo stieß einen Fluch aus und setzte sich in Bewegung. Nach ein paar langen Sätzen hatte er Janek eingeholt, griff nach seinen Schultern und hielt ihn fest.
    Cristin ging ihnen nach, doch der Junge war offensichtlich nicht bereit, sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. Mit Leibeskräften, die sie dem Kind nicht zugetraut hätte, wehrte er sich gegen Baldo, schlug und trat um sich und schrie den Älteren in seiner Sprache an. Immer lauter wurde seine Stimme, überschlug sich, bis sie schließlich nur noch ein gurgelndes Geräusch war, das die Verzweiflung in ihm offenbarte. Hilflos streichelte Cristin ihm über den Kopf und murmelte beruhigende Worte, aber er beachtete sie nicht, sondern attackierte Baldo weiterhin mit kräftigen Fußtritten.
    Dieser verstärkte nur seinen Griff. »Jetzt reicht es, verdammter Bengel!«, stieß er schließlich hervor, packte den Jungen, warf ihn sich über die Schultern wie einen Sack Mehl und trug ihn zurück in das schützende Grün des Waldes.
     
    Es war längst dunkel, als sie endlich die Stadtmauern von Slupsk vor sich aufragen sahen. Weil Piet der Einzige war, der ein wenig Polnisch sprach, hatte Baldo ihm die Führung der kleinen Gruppe überlassen und auch den Geldbeutel übergeben. An einem haushohen und ebenso breiten Stadttor, das ein Treppengiebel zierte, wie Cristin es sonst nur von Lübecker Bürgerhäusern kannte, musste ihr Bruder einem vierschrötigen Mann die doppelte Summe Torzoll zahlen, damit die beiden Zöllner sie passieren ließen.
    Er sah sich um. Wohin sollten sie nun gehen? Die Straße führte an zwei- und dreistöckigen Bürgerhäusern vorbei auf einen gepflasterten Marktplatz zu, von dem sich der schindelgedeckte Turm einer Backsteinkirche hoch in den abendlichen Himmel erhob. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Piet roch den würzigen Geruch von Holzfeuern, der aus den Schornsteinen in den dunklen Himmel aufstieg. Aus einer Gasse gegenüber trat ein Mann auf sie zu, in der einen Hand eine Hellebarde, in der anderen eine Laterne mit einem flackernden Talglicht. Ein Nachtwächter wohl, der seine erste Runde durch die Straßen und Gassen machte und darauf achtete, dass sich kein Gesindel in der Stadt herumtrieb.
    Er hob die Laterne und musterte die kleine Gruppe aufmerksam im Schein der Lampe. »Ihr seid fremd in der Stadt?«
    Piet nickte. »Ja. Kannst du uns ein Gasthaus empfehlen?«
    Der Nachtwächter machte eine Kopfbewegung zu der Gasse, aus der er gekommen war. »Zum Hahn ist es nicht weit«, antwortete er. »Eine Schänke am Ende der Bäckergasse. Seht zu, dass ihr von der Straße kommt.« Er hob die Hand zum Gruß und ging weiter.
    Baldo, Piet, Cristin und der Junge wanderten die dunkle Gasse hinunter. Aus dem Wirtshaus, über dessen Holztür ein Schild mit einem aufgemalten Hahn hing, drangen Männerstimmen, und durch die trüben Fenster aus Ochsenhaut fiel warmes Licht. Piet stieß die Tür auf, und sie traten ein. Die Gäste saßen auf grob gezimmerten Bänken an langen Holztischen, und niemand nahm von den vier

Weitere Kostenlose Bücher