Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Leben bedeutete. Die Anspannung fiel von ihr ab. Wie sie darauf brannte, Piet diese Neuigkeiten zu erzählen! Doch ihr Bruder war weit weg und baute sich mit seiner jungen Braut ein neues Leben auf. Er würde auf dem Wawel die königliche Gesellschaft mit seinen Künsten erheitern, und Cristin wusste, die beiden würden keine Not leiden. Trotzdem versetzte es ihr einen Stich, den lieb gewonnenen Bruder in Polen zu wissen, während sie mit ihrem Liebsten auf dem Weg in die Heimat war. Aber auf diese Weise hatte Janek, der nun bei dem königlichen Hufschmied und dessen Frau lebte, einen Vertrauten in der Nähe.
Ihre Gedanken kehrten zu Lüttke und Lynhard zurück. In diesem Fall hatte Lüttke mit einem der Piraten zusammengearbeitet, der die Frauen ohne Wissen seines Anführers, aber dafür vermutlich mit einem klingelnden Geldbeutel, auf das Schiff gebracht hatte. Hans Willberg hatte für seinen Verrat an den Piraten seine Strafe erhalten, doch wie lange würde Lüttke, der Lübecker Salzhändler, seine schmutzigen Geschäfte noch treiben können, bis ihm jemand das Handwerk legte? Er und Lynhard, der sich mit Lüttke eingelassen hatte, warum auch immer. Vielleicht waren es Schulden, die ihn dazu trieben?, sinnierte Cristin. Je genauer sie darüber nachdachte, desto mehr verstärkte sich ihre Vermutung, Lynhard könnte tatsächlich an Lukas’ Tod beteiligt sein. Sie wusste, er führte die Werkstatt weiter und spielte den trauernden Verwandten. Ihr wurde heiß und kalt, und der Gedanke, der sie durchzuckte, ließ ihr Blut schneller durch die Adern fließen. Angenommen, Lynhard wäre an Lukas’ Tod mitschuldig, dann … Nein. Den Gedanken zu Ende zu denken war entsetzlich!
Die Mädchen waren in ein Gespräch vertieft und achteten nicht auf sie. Mit weichen Knien erhob sich Cristin, trat an die offen stehende Luke und blickte in den mit zarten Wolken bedeckten Himmel hinauf. Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Wenn er Lukas umgebracht hat, dann muss er auch mein Verschwinden geplant haben, grübelte sie, denn ich hätte Lukas’ Erbe angetreten. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Ich muss ihm bei seinen Plänen im Weg gestanden haben. Mein Gott. Ich musste fort. Ob tot oder lebendig. Mechthild. Sie hat mich verraten. Die Frau, die ihm treu ergeben war. Cristin schlug die Hände vors Gesicht. Auf einmal ergab alles einen Sinn. Wie ärgerlich für ihn, wenn er erst feststellt, dass ich noch am Leben bin, dachte sie voller Abscheu. Der eigene Schwager und seine Geliebte. Wie oft hatte sie jene Bilder in ihren Träumen gesehen? Sie musste sich setzen.
Die Mädchen nickten ihr unsicher zu, doch Cristin reagierte nicht. Das Entsetzen hielt sie gefangen. Die Gier nach Geld und Reichtum verdarb bei vielen Menschen den Charakter, warum sollte es bei Lynhard, Mirke und Lüttke anders sein? Aber dies galt es erst zu beweisen, und zumindest Lynhard war klug genug gewesen, alle Spuren zu beseitigen.
22
D en Rest des Tages verbrachte sie in Baldos Nähe und hielt sich von den beiden Polinnen fern. Seit Paulina und Karolina Zutrauen gefasst hatten, redeten sie pausenlos auf sie ein. Cristin ertrug das Geplapper nicht länger, zu sehr war sie im Geiste mit den ungeheuerlichen Gedanken an Mord und Verrat beschäftigt. So hatte sie schließlich eine halbherzige Entschuldigung gemurmelt, sich von den Frauen abgewandt und war zu Baldo hinübergegangen.
Ihre Gedanken kreisten um Lynhard, der möglicherweise polnische Mädchen verschleppt hatte. Aber war er auch fähig, seinen eigenen Bruder zu vergiften? Denn dass Mirke es nicht allein getan hatte, sagte ihr der Verstand. Immer, wenn sie an diesem Punkt angelangt war, fühlte sie Scham in sich aufsteigen. So schlecht von ihrem Schwager zu denken, ihn für derart skrupellos zu halten, widerstrebte ihr. Dennoch: Er musste es getan haben. So gut, wie sie früher angenommen hatte, war das Verhältnis der beiden Brüder nicht gewesen. Gerade in den letzten Monaten vor Lukas’ Tod war Lynhard mindestens einmal in der Woche in Lukas’ Dornse aufgetaucht, und die beiden hatten oft heftig miteinander gestritten. Immer war es dabei um Geld gegangen, um das Lynhard seinen Bruder bat. Wobei seine Bitte eher einer frechen Forderung geglichen hatte. Drei Tage, bevor sie das Fest gegeben hatten, war Lynhard wieder einmal in der Goldspinnerei aufgetaucht. Cristin erinnerte sich deutlich an die saure Weinfahne, die ihr entgegengeschlagen war, als ihr Schwager mit leicht unsicherem
Weitere Kostenlose Bücher