Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Gang an ihr vorbeigegangen war. Nach einem kurzen Wortwechsel hatte Lukas seinem Bruder mit den Worten »Schlaf erst mal deinen Rausch aus!« die Tür gewiesen.
»Irgendwann wird dir das noch leidtun!« Deutlich erinnerte sich Cristin an Lynhards Worte, als er mit zornrotem Gesicht das Haus verlassen hatte. Einige Tage später waren die Wogen wieder geglättet. Lukas hatte seinen Bruder und Mechthild zu ihrem Fest eingeladen, und der hässliche Auftritt Lynhards schien vergessen. Cristin massierte ihre schmerzenden Schläfen. Ob Mechthild etwas mit Lukas’ Tod zu tun hatte? Das wollte sie nicht glauben. Ihre Schwägerin mochte charakterschwach und ihrem Gatten hörig sein, aber sie war eine liebevolle Mutter. Jeder Verdacht ihr gegenüber wäre schäbig. Dieser hinterhältige, durchtriebene … Cristin rief sich zur Ordnung. Lynhard war nichts nachzuweisen. Eins der Mädchen müsste ihn erkennen, denn allein die Aussage eines Seemannes, noch dazu die eines Piraten, würde ihn nicht überführen.
Als endlich die Nacht anbrach und es im Inneren des Schiffsbauches vollkommen dunkel war, schmiegte sich Cristin in Baldos Arme und lauschte auf das Geräusch der gegen den Schiffsrumpf schlagenden Wellen. Nur noch ab und zu drangen aus den Mannschaftsräumen Stimmen zu ihnen herab. Bald verstummten auch die leisen Gespräche der Gefangenen, und erste Schnarchgeräusche waren zu hören. Baldos gleichmäßiger Atem verriet, auch er war eingeschlafen. Cristin kuschelte sich enger in seinen Arm, schloss die Augen und dankte Gott dafür, nicht allein zu sein. Was auch immer geschehen mochte, wenn sie wieder in Lübeck waren, gemeinsam würden sie es überstehen. Baldo hatte während ihrer Reise kein Wort von dem erwähnt, was in ihm vor sich ging. Quälten ihn nicht Ängste, wenn herauskam, wer er war? Der Sohn des Henkers, der mit einer verurteilten Mörderin geflüchtet war und nun in die Heimat zurückkehrte, um ihre Unschuld zu beweisen. Wie würde der Scharfrichter reagieren, wenn er seinem Sohn gegenüberstand? Würden ihre Beweise ausreichen, um dem Vogt entgegentreten zu können?
Durch das Holzgitter der Luke waren ein paar funkelnde Sterne am wolkenlosen Himmel auszumachen. Ach, Lukas, wenn du mich jetzt sehen könntest, dachte sie. Ob du mir deinen Segen geben würdest? Dieser Mann hier ist ganz anders als du, aber er ist ein guter Mann. Ein ehrlicher Mann. Und er liebt mich von Herzen. Wenn du ihn näher kennen würdest, ich glaube, er würde dir gefallen.
Cristin erwachte, lauschte auf das Knarren des Holzes und die Stimmen der Männer, die in den Laderaum hinunterdrangen.
»Land in Sicht«, rief jemand von ferne. Das musste der Jungspund hoch oben im Ausguck sein, den Cristin gestern eine schmale Strickleiter zu der Plattform an der Spitze des Mastes hatte hinaufklettern sehen. Er zählte höchstens sechzehn Lenze, ein Junge mit einem offenen, freundlichen Gesicht. Was mochte ihn dazu bewegt haben, sich den Piraten anzuschließen, um ein Leben in ständiger Gefahr zu führen? Cristin streckte sich, um die steifen Glieder zu lockern. Trotz des Schlafes fühlte sie sich müde und zerschlagen. Neben ihr regte sich Baldo. Seine Hand suchte nach der ihren, fand sie und hielt sie einen Moment fest. Cristin beugte sich zu ihm hinunter, bis ihr Mund im Halbdunkel seine rauen, vom Schlaf warmen Lippen fand, und hauchte einen zärtlichen Kuss darauf.
»Wir sind bald frei, mein Lieber!« Mit einem wohligen Seufzen legte sie ihren Kopf an seine Brust. »Die Küste ist bereits zu sehen. Sobald Arnd von Krämers Leute uns an Land gebracht haben, kehren wir nach Lübeck zurück. Sei dir sicher, diesmal werde ich Elisabeth finden, das schwöre ich bei allen Heiligen. Sie lebt hinter hohen Mauern. Piet hat es gesehen.«
»Gesehen … Was willst du damit sagen, Cristin?« Baldo fuhr sich über die gekräuselte Stirn. »Du meinst …«
»Ja. Er hat die Gabe, Dinge zu … Er hat Elisabeth gesehen. Wir müssen sie finden.«
Baldo winkte ab, stand auf und schüttelte den Staub aus seiner Kleidung.
»Wer soll je verstehen, was ihr Spökenkieker so treibt? Aber wenn du meinst, dann wollen wir es versuchen.«
In diesem Moment wurde die Luke geöffnet, und einer der Piraten steckte den Kopf hinein. »Ihr könnt alle an Deck kommen, frühstücken.«
23
C ristin warf einen letzten Blick zurück auf das Ruderboot, mit dem sie, Baldo und die beiden Polinnen von zwei Piraten an Land gebracht worden waren und das sich jetzt
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