Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
überstehen würde, war ihr ein Rätsel, doch sie wusste es mit einer Klarheit, die sie nicht leugnen durfte. Das Weiße in seinen Augen war gelblich verfärbt. Sie setzte sich nieder. Er versuchte zu sprechen, aber aus seinem Mund kamen nur lallende Töne, die sie an einen betrunkenen Zecher erinnerten. Plötzlich kicherte er wie ein kleines Kind, und das Geräusch ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Dann sank Lukas in einen gnädigen Schlaf zurück. Cristin bekreuzigte sich.
Als seine Atemzüge tief wurden, stand sie auf, trat neben sein Bett und berührte mit den Lippen seine heiße Stirn. »So Gott, der Herr, es will, werde ich dir helfen.« Sie schlug die Decke beiseite und registrierte seinen geblähten Bauch. Lukas’ Brust hob und senkte sich viel zu langsam. Zärtlich streichelte sie seine Wangen, sammelte sich und hob die Hände hoch über die stille Gestalt. Mit geschlossenen Lidern ließ sie sie über seinen Körper schweben, auf der Suche nach einer Verbindung. Außer dem Lufthauch, der durch einen kleinen Fensterspalt in die Kammer drang, spürte sie jedoch nichts. Mit aller Macht versuchte Cristin die ängstlichen Gedanken und Gefühle, die sie zu übermannen drohten, aus ihrem Kopf zu verbannen. Vor der Tür vernahm sie die leisen Stimmen von Minna und Küppers. Sie wartete, bis die Unruhe im Flur verebbte, und öffnete für einen Moment die Augen. »Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst, Lukas. Hast du mich verstanden?«
Cristin blinzelte. Im Kamin loderte ein helles Feuer, doch wo war die Wärme geblieben? Die Talglampen im Raum flackerten. Sie strich Lukas eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn, schloss die Lider und probierte es erneut. Diesmal hielt sie die Hände direkt über seinen Körper, so nah, dass sie die Wärme seiner Haut spüren konnte. Hinter ihren geschlossenen Augen nahm sie Farben und Formen wahr, fast so, als könnte sie in das Verborgene seines Inneren hineinschauen. Ein schwaches, aber pulsierendes Herz. Blutbahnen, die im Rhythmus des Herzschlages dunkelrot aufleuchteten und sie an die verschlungenen Wege einer Stadt erinnerten. Sein Brustkorb, der sich mit jedem Atemzug hob und senkte. Cristin stöhnte auf. Ein Gedanke formte sich in ihr, der von einer Grausamkeit war, dass sich alles in ihr weigerte, ihn anzunehmen. Das Leben unter ihren Händen war nur noch schwach zu spüren, wie die erlöschende Flamme einer Kerze. Sie fühlte, ein Windzug würde genügen, um dieses Dasein im nächsten Moment auszuhauchen.
Tränen rannen ihr ungehindert über die Wangen, während ihre Finger über dem Bauchraum des Kranken verharrten. Jäh durchzuckte sie ein brennender Schmerz und trieb ihr Schweißperlen auf die Stirn. Vor ihrem inneren Auge sah sie es. Etwas Fremdes. Gelbliche Säfte, die wie Tropfen langsam, aber unaufhaltsam durch seine Adern sickerten, um sich im ganzen Körper auszubreiten, bis in die letzte Pore. Seine Innereien erstickten nach und nach an diesen zähflüssigen Säften! Gleichzeitig fühlte sie, wie Lukas’ Leib sich ergab. »Nein!« Cristin zog die Hände zurück, schüttelte sie und wischte sie an ihrem Gewand ab. Dann warf sie sich über seinen still daliegenden Körper. »Bleib bei uns, bitte«, wisperte sie. Während sie über seine Wangen streichelte, als könnte sie ihm durch ihre Liebe wieder neue Kraft zum Leben schenken, drang eine Erkenntnis zu ihr durch. Gift! Es war Gift, das seinen Körper zerstörte. Nichts würde ihn retten. Cristin presste eine Hand auf seinen Puls. Ihre Augen brannten, doch sie musste ihn betrachten, seine lange, gerade Nase, die dichten Brauen, ja jede Linie seines Gesichts, um sie für immer in ihr Gedächtnis zu brennen. Mit angehaltenem Atem sah sie, wie Lukas tief die Luft einsog und den Kopf zu ihr drehte. Ihr Herz macht einen Satz.
Seine Miene zeigte Verblüffung, denn er schien zunächst nicht zu wissen, wo er sich befand. Ruhelos wanderten seine Augen umher, als wäre er auf der Suche. Dann blieben sie an ihr hängen, wurden klar wie die See. Cristin konnte das Aufblitzen des Erkennens in seinem Gesicht wahrnehmen. »Liebling, ich bin es. Cristin, deine Frau.«
Statt einer Antwort tasteten seine Finger nach ihrer Hand. Wie kalt sie waren! Lukas führte ihre Hand an seinen Mund und küsste sie.
»Hast du Schmerzen? Ich hole Medizin, wenn …«
Er schüttelte den Kopf.
»Du musst gesund werden, ich brauche dich so sehr.« Für all das, was sie ihm gern gesagt hätte, fehlten nun die Worte.
Mit einer
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