Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
schwachen Handbewegung bedeutete er ihr, näher zu kommen.
Cristin beugte sich zu ihm hinunter und nahm sein Gesicht in die Hände. »Du möchtest mir etwas sagen?«
Seine Stimme war brüchig, aber fest. »Ich sterbe, mein Liebes. Mit mir geht es zu Ende.«
Sie japste nach Luft. »Ich bitte dich, sag so etwas nicht. Das entscheidet nur Gott allein.«
»Ich weiß es.«
Aufschluchzend küsste sie wieder und wieder seine Wangen, bis sich ihre Tränen mit seinem Schweiß vermischten. Cristin fühlte, wie er ihr von einem Herzschlag zum nächsten immer weiter entglitt. Es war, als wäre ein Teil von ihm schon weit fort, auf die Reise dorthin, wo sie ihm nicht folgen konnte. Nicht folgen durfte. Sie hielt ihn im Arm und wiegte ihn. Bis Lukas ein letztes Mal die Augen öffnete. »Elisabeth«, flüsterte er. »Pass gut auf sie auf, Liebste.« Seine Stimme erstarb. Ein Zittern, ein letztes Aufbäumen, dann sank sein Kopf zur Seite.
Sie horchte auf seinen Atem. Bewegungslos verharrte sie mit einem Ohr an seiner Brust, lauschte. Aber sein Körper blieb stumm. Hilflos klammerte sie sich an ihn, schmiegte die Wange an seine. Sie küsste seine blassen Lippen, unfähig zu begreifen, was soeben geschehen war. Lukas’ Miene wirkte seltsam entrückt. Etwas in ihr brach entzwei, Dunkelheit senkte sich über sie. Sie schrie auf. Einmal, zweimal, immer wieder. Bis die Tür aufgerissen wurde und sanfte Hände sie von dem Leichnam fortzogen.
15
D en Blick starr geradeaus gerichtet, setzte Cristin einen Fuß vor den anderen. Als Gemahlin des Verstorbenen war es ihre Pflicht, den Trauerzug anzuführen. Elisabeth quengelte, seit sie die Friedhofskapelle verlassen hatten, als würde sie begreifen, wer hier zu Grabe getragen wurde. Cristin suchte nach Worten der Beruhigung, aber ihr fiel nichts ein. Alles erschien ihr wie ein furchtbarer Albtraum, aus dem sie jeden Moment zu erwachen hoffte. Dann würde sie sich an Lukas schmiegen und mit dem sicheren Wissen in den Schlaf zurückgleiten, dass er neben ihr liegen würde, wenn sie erwachte. Der Trauerzug hielt, und sie blieb stehen. Der Sarg wurde vom Karren gehoben und vor der ausgehobenen Grube abgestellt. Mit steifen Schritten trat sie näher, berührte das kühle Holz. Cristin schwankte. Wie von weit her fühlte sie, wie jemand sie stützte und auf sie einredete. Mit einer Handbewegung machte sie sich frei. Die Augen der Anwesenden waren auf sie gerichtet, doch was kümmerte es sie? Das Gesicht an Elisabeths Wangen gepresst, wandte sie sich wortlos um und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, den Weg bis zur Hunnestrate zurück.
Elisabeth war unterwegs in ihrem Arm eingeschlafen. Cristin öffnete die Tür zur Schlafkammer, um die Kleine hinzulegen, und blieb kerzengerade stehen. Sie sah zum Bett, wo sie drei Tage und Nächte Lukas’ Totenruhe bewacht und beweint hatte, bis es keine Tränen mehr gab, die sie vergießen konnte. In der Kammer roch es nach Siechtum, Furcht und Abschied. Unerträgliche Stille. Ein Frösteln überlief ihren Leib. Mit raschen Schritten trat sie an Elisabeths Bett, schob es mit einer Hand hinaus, zog die Tür hinter sich ins Schloss und betrat den Wohnraum, um es in eine geschützte Ecke zu stellen.
Von tiefer Trauer erfüllt betrachtete sie das friedliche Kindergesicht. Der winzige Daumen steckte in Elisabeths Mund und war Trost und Beruhigung zugleich. Cristin saß einfach nur da, was sollte sie auch sonst tun, außer den Schlaf der Tochter zu bewachen? Ihre gefalteten, vom Spinnen schwieligen Hände, nichts hatten sie ausrichten können, überhaupt nichts! Keine heilende Kraft war in ihnen gewesen, als Lukas es am nötigsten gebraucht hätte. Sie taugten nur zum Spinnen und Sticken, unterschieden sich in keiner Weise von den Händen anderer Frauen. Warum war sie dem Glauben erlegen, die Dämonen seiner Krankheit aus dem geplagten Körper vertreiben zu können? Welche Sünde hatte sie begangen, dass Gott sie im Stich ließ, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem es um das Liebste ging, was sie besaß?
Nie wieder wollte sie ihre Hände zu etwas anderem gebrauchen als für Alltäglichkeiten. Auch den Wunsch, mehr über diese sonderbare Gabe erfahren zu wollen, begrub sie tief in ihrem Inneren. Das Beste würde es sein, dieses leidige Geheimnis für immer zu vergessen. Ein anderer Gedanke nahm Gestalt in ihr an, den sie über die vergangenen Tage verdrängt hatte und der so unglaublich war, dass sie auch jetzt den Drang verspürte, ihn als
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