Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Publikum mit ihren Kunststücken in den Bann zog. Obwohl ihr Irmela leidtat, weil dem jungen Mädchen die Darbietung des Mannes sichtlich peinlich war, musste Cristin laut lachen. Selten hatte sie etwas so Komisches erlebt wie die Vorführung dieses Narren, der sich nun nach allen Seiten verneigte.
»Aus fernen Landen komm ich her, um Euch hier zu beglücken. So spielt’ ich schon im Frankenland, zu vieler Leut’ Entzücken. In Polen war’s besonders fein, dort war das schönste Mädchen mein, doch als es wollt’ mein Weib dann sein, da musst ich mich verdrücken.« Tänzelnd bewegte er sich zu jedem Einzelnen hin, wobei die Glöckchen an seinen Füßen klingelten. Mal verbeugte er sich so tief, dass er ins Stolpern geriet, mal tat er, als kämpfte er mit einem gewaltigen Untier.
»Der Kerl ist gut«, murmelte Utz. »Wir sollten es mit ihm versuchen.«
Nun stand der Narr vor Baldo, und Cristin konnte ihn aus der Nähe betrachten. Das Gesicht unter der Schminke war jung und faltenlos, und wenn er lachte, zeigte er kräftige Zähne. Sein Haar allerdings, das zu einem kurzen Zopf gebunden war und unter der seltsamen Kopfbedeckung hervorschaute, war schlohweiß wie das eines alten Mannes. Fasziniert musterte sie ihn.
»Junger Freund«, sagte der Narr mit gespielt hoher Stimme zu Baldo. »Victorius wird dir zeigen, wie du das schöne Weib neben dir schmücken und beeindrucken kannst. Schau!« Mit einer schnellen Bewegung fasste er an Baldos Bart und tat, als wollte er ihn rasieren. Zu Cristins Verblüffung hielt er einen beinernen Kamm in der Hand. »Dies schenke ihr, und sie wird dich anbeten. Oder auch nicht«, fügte er feixend hinzu. Mit einem schelmischen Lächeln trat er nun an Cristin heran. »Hochverehrte Zigeunerin, gewähre mir die Ehre, deine Hand küssen zu dürfen«, näselte er, machte eine ausladende Verbeugung und griff nach ihrer Hand, um sie an seine Lippen zu führen.
Die Berührung und der Klang seiner Stimme durchzuckten sie wie ein Blitz, riefen eine beinahe verbannte Erinnerung in ihr wach. Einen Herzschlag lang erschien es ihr, als würde seine zur Schau getragene Miene erstarren. Groß wie blaue Murmeln wurden seine Augen, und sie spürte, wie ein Ruck durch seinen Körper ging. Wer war dieser Mann, dass er sie mit so eigenartigen Blicken maß? Zart küsste er ihre Hand, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, und ihr Herz machte einen Satz. Schon hatte er sich wieder in der Gewalt und schlug sich in gespielter Verblüffung eine Hand vor den Mund.
»Schöne Seherin, was hast du in deinem Gewand verborgen?« Aus ihrem Ärmel zog er zur Belustigung aller zwei kleine Bälle hervor. Im nächsten Moment riss er in gespielter Überraschung die Augen auf. »Oh, seht nur – hier sind ja noch mehr!« Drei weitere Bälle erschienen wie aus dem Nichts aus ihrem Kopftuch, und der letzte lag plötzlich in ihrer Hand.
Cristin konnte nicht glauben, was sie da sah. Und noch weniger, was sie eben bei der Berührung empfunden hatte. Diese Stimme, fast atemlos, rau und etwas heiser. Sicher spielte die Fantasie ihr einen üblen Streich. Aufmerksam beobachtete sie, wie der Narr gekonnt mit den Bällen jonglierte und dabei ein respektloses Lied anstimmte. Dieser Mann war ganz anders als alle Menschen, denen sie zuvor begegnet war. Seine Augen blitzten, während die Leute ihm mit offenem Mund zusahen, und Cristin erkannte, dass Victorius ein Narr war, weil er genau dies und nichts anderes sein wollte. Seine Darbietung bereitete ihm ebenso viel Vergnügen wie seinen Zuschauern.
Das unterschied ihn von den anderen Gauklern der Truppe, die alle ihre eigene dunkle Vergangenheit zu verbergen versuchten. So wie Utz, den sein Vater, ein Paderborner Adliger, an seinem achten Geburtstag in das Kloster Corvey gebracht hatte, um ihn von den Mönchen erziehen zu lassen. Seine Eltern wünschten außerdem, dass der Junge durch seine Gebete für das Seelenheil der Familie sorgte. Doch die Regeln, die der Abt ihm und den anderen auferlegt hatte, hatte er eines Tages nicht mehr ertragen. Vor einem halben Jahr war Utz schließlich aus der Ordensgemeinschaft geflohen, zusammen mit Irmela, der Tochter eines unfreien Bauern, dessen Land dem Kloster gehörte, und in die er sich verliebt hatte. Wie Duretta, die aus einem Hübschlerinnenhaus in Brunswick geflüchtet war, nachdem sie sich den widernatürlichen Forderungen eines Kerls verweigert hatte. Zur Strafe hatte der Besitzer des Hurenhauses die junge Frau brutal
Weitere Kostenlose Bücher