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Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerit Bertram
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schien. Einen Steinwurf entfernt erkannte sie schemenhaft das große Rad der Brauerwasserkunst, das von der Strömung der Wakenitz angetrieben wurde. Am Tag beförderten die Schaufeln das von den Brauern benötigte Wasser in einen Behälter, von dem aus es durch hölzerne Leitungen in den Süden der Stadt floss, doch jetzt stand es still. Was Victorius wohl von ihnen wollte? Sie hasste es zu warten.
    Cristin hob den Kopf und sah zum Himmel, an dem dunkle Wolken den Mond und die meisten Sterne verdeckten. Wieso mussten sie sich des Nachts treffen? Was hatte der Narr ihnen zu sagen, was die anderen nicht mitbekommen durften? Als sie dicht neben sich Schritte vernahm, zuckte sie zusammen.
    »Wurde auch Zeit«, hörte sie Baldo brummen.
    »Entschuldigt, ich kam nicht eher weg. Michel und Utz wollten noch einiges mit mir besprechen.«
    Cristin blickte auf, während der Mond sichtbar wurde und das Flussufer und den Hüxterdamm in fahles Licht tauchte. Diesen ungeschminkten und unauffälligen Mann hätte sie niemals als den Narren vom Marktplatz wiedererkannt, wenn nicht eine weiße Haarsträhne aus seiner Gugel, die er gegen die Narrenkappe getauscht hatte, hervorlugen würde.
    Er trat näher und lächelte ihr zu, aber seine Augen blieben ernst. »Danke, dass ihr gekommen seid.« Die Hände in den Taschen eines dunklen Umhanges vergraben, sah der Narr von einem zum anderen.
    »Sag, was du vorzubringen hast, und dann lass uns gehen«, entgegnete Baldo unwirsch. »Ich will nicht die ganze verdammte Nacht hier verbringen.«
    Der Angesprochene nickte. Sein Gesicht lag im Halbdunkel, doch sie konnte deutlich seine Anspannung spüren. »Wie ist dein richtiger Name, Zigeunerin?«
    Cristin erstarrte. Hilfe suchend sah sie zu Baldo, der unmerklich den Kopf schüttelte. »Was soll das? Du kennst meinen Namen.« Obwohl sie sich bemühte, ihrer Stimme einen festen Ton zu geben, zitterte diese verräterisch. »Mala heiße ich«, sagte sie. Er unterbrach sie schroff.
    »Dein Name ist Cristin. Du zählst neunzehn Lenze und trägst viel Traurigkeit in dir.«
    Sie wich zurück, starrte ihn fassungslos an. Der Boden drohte unter ihr nachzugeben. »Wie? Woher weißt du …?«
    Mit zusammengebissenen Lippen stolperte sie über das feuchte Gras. Wieso kannte er ihren Namen? Was wusste er noch von ihr? Wie aus weiter Ferne erreichte sie Baldos Stimme, der offenbar versuchte, Victorius loszuwerden. Er ist ein Spitzel, durchfuhr es sie. Ein als Narr verkleideter Spitzel, geschickt von den Richteherren persönlich. Kälte kroch ihr in die Glieder. Nachdem ihr Herzschlag sich ein wenig beruhigt hatte und sie aufblickte, erkannte Cristin, dass die beiden auf sie zukamen.
    »Hör mich an, bitte. Ich werde dir nichts tun«, bat Victorius.
    Unwillkürlich lauschte sie seiner Stimme, räusperte sich. »Nicht, bevor du mir verrätst, wer du bist und was du von mir willst!«
    »Gut.« Der Narr räusperte sich. »Victorius ist nur der Name, unter dem ich auftrete. Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dich endlich gefunden zu haben. Ich heiße Piet und bin … ich bin dein Bruder.«
    Cristin stand da wie vom Donner gerührt und ließ seine Worte an sich vorüberziehen. Außer dieser Stimme nahm sie nichts mehr wahr. Stumm starrte sie auf Victorius’ Mund, lehnte sich gegen den Stamm eines alten Baumes hinter ihr und sank ins Gras.
    Starke Arme hielten sie umfangen. »Sieh mich an, Cristin!«
    Sie gehorchte.
    »Wir sind Zwillinge, hörst du?« Er strich über ihre Wange. »Ich habe dich gefunden.«
    Nein, Lüge. Alles in ihr bäumte sich auf. Meine Eltern heißen Gesche und Johann Weber. Sie hatten keinen Sohn. Verdammter Schwindler! Hitze stieg in ihr auf, und ein Sturm schwoll in ihrem Inneren an. Sie krallte ihre Finger in Victorius’ Umhang. »Ich höre mir das nicht länger an«, schrie sie. »Du beschmutzt das Andenken meiner lieben Eltern! Geh mir aus den Augen!« Grob stieß sie ihn von sich, erschrocken über ihre eigene Kraft, als er unsanft auf dem Hintern landete.
    »Ruhig, Mädchen. Lass ihn doch erst mal ausreden«, versuchte Baldo sie zu beschwichtigen.
    »Du glaubst ihm also?« Cristin stemmte die Hände in die Hüften. »Dieser … dieser hergelaufene Komödiant taucht hier auf, erzählt uns eine rührende Geschichte von Geschwistern, die sich endlich wiederfinden, und du schenkst seinen Worten so einfach Glauben?«
    Baldo zuckte die Achseln.
    Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Victorius sich ihr mit ausgestreckten Händen näherte.

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