Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
stehen?
Baldos Stimme unterbrach ihre Gedanken. »Du bist bleich wie der Tod. Nun red schon.«
Cristin schüttelte den Kopf. »Es ist nichts«, log sie, während sie sich mit einer Hand über den Nacken fuhr, um den Schweiß abzuwischen. Die Luft war drückend, denn es wehte keine Brise.
»Willst du mich zum Narren halten – Agnes? Wenn du krank bist, solltest du zur Ruhe gehen. Aber mach mir nichts vor, verdammt noch mal!«
»Ich kann nicht … nicht hier, Adam.«
Duretta kam durch die Menge auf sie zu, und in der Mütze, die sie den Zuschauern entgegenhielt, klimperten bereits etliche Münzen. Über ihr, in gut drei Klaftern Höhe, tanzte Irmela auf dem Seil. Michel, Utz und Mathes standen lässig vor dem Zelt und schauten ihr Beifall klatschend zu.
Baldo nagte am Daumennagel. Cristin wich ihm aus. Wieso erzählte sie ihm nicht einfach, was sie beschäftigte? Zwei junge, kichernde Mädchen steuerten auf das Zelt zu, und Cristin straffte die Schultern. Er konnte ihre Erleichterung förmlich spüren.
»Wir sehen uns später«, sagte sie. »Ich habe zu tun.«
Seine Mundwinkel bogen sich nach unten. Er sah ihr missmutig hinterher, bis sie gemeinsam mit den Mädchen im Inneren des Zeltes verschwunden war. Dieses Weib würde er wohl nie verstehen. Jemand schlug ihm auf die Schulter. »War deine Schwester wieder ungehorsam?« Utz stand lächelnd hinter ihm.
»Wieso?«
»Ha!« Utz ließ ein tiefes Lachen hören. »Du solltest mal dein Gesicht sehen, Adam. Wie drei Tage Regenwetter.«
Baldo brummte zustimmend. »Wenn ich mir den Himmel so betrachte, könnte das sogar hinkommen.«
»Michel meint, wir sollen für heute abbauen, bevor das Donnerwetter über uns hereinbricht. Agnes soll für heute Schluss machen.«
»Du hast eine Tochter?« Baldo starrte sie an.
Sie saßen am Rande des Marktplatzes und schauten zu, wie die Männer die restlichen Gerätschaften in die Karren hievten. Cristin nickte und senkte die Lider. Mit stockender Stimme erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Von Elisabeths Geburt und Lukas’ plötzlichem Tod kurze Zeit später.
»Woran ist er denn gestorben?«, unterbrach er mit einer Stimme, die seine Erregung verriet.
Ihr war, als würde die alte, kaum verheilte Wunde wieder aufbrechen, wenn sie darüber sprach, doch es musste sein. Sie erzählte ihm von seinem furchtbaren Todeskampf, nur die Tatsache, wie sie mit ihren Händen erspürt hatte, dass Lukas an einem unbekannten Gift gestorben war, verschwieg sie. Auch die Begebenheit mit dem Fremden wollte sie für sich behalten. Cristin wusste, sie brauchte Zeit, um herauszufinden, was das alles zu bedeuten hatte. Warum also sollte sie Baldo unnötig aufregen? Schließlich war nichts geschehen. Während ein erstes Donnergrollen heranrollte und sich die ohnehin bedrückende Atmosphäre noch verstärkte, breitete sich Schweigen zwischen ihnen aus.
Baldo zog sein Wams aus und hielt es über ihre Köpfe, um sie vor dem nahenden Regen zu schützen. »Was ist mit deiner Tochter passiert?«
»Ich vermute, Elisabeth wurde zu meiner Schwägerin Mechthild gebracht, nachdem sie mich eingekerkert hatten. Ich muss sie finden, muss wissen, dass es ihr gut geht …« Cristins Sicht verschwamm, und sie wendete sich ab.
»Ich werde dich begleiten.«
Entschieden schüttelte sie den Kopf. »Das will ich nicht. Ich muss allein …«
»Kommt nicht in Frage. Utz hat recht, ich sollte wirklich besser auf meine ungehorsame Schwester achten.« Baldo grinste. »Wir gehen die Kleine gemeinsam suchen. Und dieses Mal dulde ich keinen Widerspruch!«
Schweißgebadet erwachte Cristin. Sie schluckte im letzten Moment den Schrei hinunter, der in ihrer Kehle aufgestiegen war, und setzte sich auf. Das Gefühl eines nahenden Unheils, das sie im Traum begleitet hatte, hallte in ihr nach, und ihr Atem ging stoßweise. Mit einem Seitenblick vergewisserte sie sich, Baldo und die anderen nicht geweckt zu haben. Die Luft war schwer und feucht vom Regen und der Nachthimmel voller tief hängender Wolken. Das leise Schnarchen der anderen übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus, trotzdem fand sie nur langsam in die Wirklichkeit zurück. Gesichtslose Wesen hatten sie verfolgt, um sie einzufangen, doch ganz gleich, wohin sie gelaufen waren, die Verfolger waren ihnen dicht auf den Fersen. Der Traum war so wirklich gewesen wie das feuchte Gras unter ihren Decken. Sie rieb sich die Augen und zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Neben ihr zuckte Lump im Schlaf heftig mit den
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