Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
ich. Oh, Mädchen …«
»So sprich doch endlich«, entfuhr es ihr, während sie ihn an den Armen packte.
»Hier, hier war ich schon einmal.« In seinem Gesicht zuckte es. »Ich erinnere mich. Ich war hier. Ein Mann ging neben mir her, sprach mit mir.«
Cristin schluckte. »Wie sah er aus, Baldo? Erzähl es mir!«
Sein Blick wurde leer. »Ich weiß es nicht. Aber seine Stimme …«
So fassungslos hatte sie ihn noch nie gesehen. Er schien nicht einmal zu bemerken, wie der Regen an seiner Kapuze hinunter in den Umhang tropfte. Sanft strich sie ihm die Tropfen von seinen Wangen. »Was war mit seiner Stimme?«
Er sah sie an. »Was er gesprochen hat, weiß ich nicht. Aber diese Stimme … sie war scharf und ohne Wärme.« Baldo schüttelte sich.
Sie erstarrte. Konnte dies sein Vater gewesen sein, an den er sich erinnerte? Für einen Moment vergaß sie, warum sie an diesem Ort standen und was sie vorhatten. »Was auch immer es war, wir werden es herausfinden, Baldo. Dein Gedächtnis kehrt zurück. Wir sollten uns freuen, meinst du nicht?«
»Du hast recht. Nur dass ich nicht weiß, ob mir gefällt, woran ich mich erinnere.«
Cristin nickte und griff nach seiner Hand. Sie war kalt, doch sie ließ ihn nicht los. »Ich habe Angst, Baldo«, gestand sie. »Was, wenn mich jemand erkennt?«
»Gemeinsam schaffen wir das. Komm.«
Der Regen hatte endlich nachgelassen, und die tief stehende Sonne kämpfte sich durch die Wolken, als Cristin und Baldo aus der Stadt zurückkehrten. Pfützen machten den Marktplatz nahezu unpassierbar, daher rechnete keiner der Gaukler damit, die Vorstellungen wie gewohnt abhalten zu können. Müde lehnte sich Cristin gegen die Zeltwand.
»Vielleicht hat deine Tochter nur in einem Nebenraum geschlafen«, bemerkte Baldo, der den Arm um sie gelegt hatte und sie in ihr Zelt führte.
Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen, ohne abermals in Tränen auszubrechen. All ihre Hoffnungen, Elisabeth zu finden, waren wie eine Seifenblase zerplatzt. Unerkannt waren sie die Hunnestrate entlanggegangen, vorbei an der verlassen wirkenden Werkstatt. Oh ja, sie hatte Mechthild und deren Kinder gehört und sogar einen kurzen Blick in die Dornse geworfen. Doch von Elisabeth fehlte jede Spur. Verwirrt blickte sie auf, denn vor dem Zelt hörte sie jemanden laut und schräg singen.
»Gewährt mir Einlass, liebe Leut. Hier ist Victorius, allerorten bekannter Narr und einziger Jongleur, dem es gelingt, mit sechs Bällen zu hantieren. Ein Könner seiner Zunft!«
»Dann zeig uns mal, ob du mit den Bällen wirklich so gut bist wie mit dem Maul!«, rief jemand.
Gelächter brandete auf. Michel lugte ins Zelt hinein, auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen. Wenn ihm die gedrückte Atmosphäre auffiel, so behielt er es für sich.
»Den komischen Vogel müsst ihr euch ansehen. Der hat uns gerade noch gefehlt«, lachte er und winkte sie zu sich.
Cristin wollte sich abwenden, doch Baldo griff nach ihrem Arm, ohne auf ihren Protest zu achten. Lump bellte, als wollte er seinem Herrn zustimmen. Widerstrebend ließ sie sich mitziehen.
Sie blinzelte in der Sonne, während sich eine Gestalt in einem bunten Kostüm zu einem fremd anmutenden Tanz bewegte, wobei kleine, an den goldenen Bundschuhen befestigte Glöckchen bei jeder der leichtfüßigen Bewegungen leise klingelten. Mit offenem Mund starrte Cristin sie an. Zu einem feuerroten Hemd trug die Person eine Hose, deren eine Seite in glänzendem Blau schimmerte, während die andere in einem kräftigen Gelb leuchtete. Auf dem Kopf saß eine Mütze, an deren drei herunterhängenden Spitzen ebenfalls kleine Schellen baumelten.
»Narr, zeig uns mehr von deiner Kunst!«, rief Michel gut gelaunt und stieß Cristin an. »So jemanden könnten wir gut gebrauchen, oder?«
Ein Narr also. Cristin hatte noch nie einen dieser Spaßmacher gesehen, die auf Jahrmärkten ihre Vorstellungen gaben. Der Angesprochene trat näher und fiel in einen Knicks, wie ein Mädchen es tun würde. Baldo, der neben ihr stand, prustete los und sprach Cristin an. Doch sie hörte nicht zu, denn sie konnte sich von dem Anblick des Fremden mit dem weiß geschminkten Gesicht und dem übermalten Mund nicht lösen.
Mittlerweile hatte sich die gesamte Gauklertruppe um den Narren versammelt. Staunend hörte sie, wie der Fremde aus dem Stegreif begann, ein »Loblied auf Irmela, die schöne Seiltänzerin«, anzustimmen. Mit schrägen Tönen besang er ihre Anmut und Tollkühnheit, mit der sie das verehrte
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