Die Goldspinnerin: Historischer Roman (German Edition)
Sie wollte sich auf ihn stürzen, doch Baldo hielt sie eisern fest.
»Verflixt, Cristin. Beruhige dich!«
Gegen seine Kraft war sie machtlos.
»Ich werde dir alles erklären, Cristin. Bitte hör mich an.« Victorius sprach stockend.
Ihre Sicht verschwamm, während sich sein Blick in ihren senkte. Diese Stimme … mein Gott, diese Stimme. Erst als Victorius sie sanft an den Schultern rüttelte, kam sie wieder zu sich. »Was willst du von mir?«
Baldo stierte Victorius und sie mit offenem Mund an.
»Fühlst du es nicht auch, dass wir uns kennen?«, murmelte der Narr, ohne auf Baldos entgeistertes Gesicht zu achten.
»Bei der Heiligen Jungfrau Maria!«, stammelte Cristin. Ohne zu wissen, wie ihr geschah, fühlte sie, wie Victorius mit zitternden Händen ihr Gesicht umfasste.
»Ja. Ich war es. Erinnerst du dich nicht? Wir sind wieder zusammen. Endlich.«
Seine Worte rauschten in ihren Ohren und gruben sich in ihr Innerstes. Jede einzelne seiner Silben schmerzte. »Das kann nicht sein. Es … es muss eine andere Erklärung …« Sie schüttelte ihn ab. »Lass mich gefälligst los! Du bist ja irre!«
Mit sich überschlagender Stimme rammte sie ihm eine Faust in den Magen, machte sich von ihm frei und rannte durch die Dunkelheit. Nur fort von diesem Gesicht, von dieser Stimme, die sie so anrührte. Beinahe wäre sie über einen dicken Ast gestolpert und blieb schließlich stehen. Aufatmend erkannte sie, dass ihr weder Baldo noch dieser Verrückte gefolgt war und lehnte sich gegen eine Mauer. Wie lange sie dort reglos stand und vor sich hin starrte, wusste sie nicht zu sagen. Als sie Schritte hörte, versteifte sie sich.
Piet blieb in sicherer Entfernung zu ihr stehen. »Ich kann mir denken, wie es in dir aussieht. Warum sollst du mir auch glauben?« Sein Gesicht lag im Dunklen. »Ich bitte dich nur, mich anzuhören. Wirst du das tun?«
Sie kämpfte mit sich, schloss für einen Moment die Augen. »Ich glaube dir nicht. Das hast du dir nur ausgedacht. Aber bitte, rede nur.«
Sein Lachen klang heiser. »Wir haben Zeit. Viel Zeit, alles verstehen zu lernen.«
Nachdem sie sich ein wenig gefangen hatte, erzählte Piet ihr die ganze unglaublich klingende Geschichte ihrer Vergangenheit. Der Mann, der behauptete, ihr Bruder zu sein, schilderte das Leben seiner und – wie er sagte – auch ihrer Mutter mit so bildhaften Worten, dass Cristin alles genau vor sich sehen konnte …
»Für mich war Sybil Kerklich, unsere Mutter, die hübscheste Frau der Welt. Sie hatte lange, glänzende Haare von der Farbe reifer Kastanien und blaue Augen, so wie ich. Ich mochte das Grübchen an ihrem Kinn und die Art, wie sie die Nase immer kräuselte, wenn sie aufgeregt oder verärgert war. Aber das ist eine andere Geschichte … Mit angezogenen Knien saß sie an diesem besonderen Tag, von dem sie mir später erzählte, auf dem Boden ihrer einfachen, aus grobem Holz errichteten Hütte und starrte mit rot unterlaufenen Augen ins Leere. Mit ihren knapp vierzig Lenzen war sie fast schon zu alt, um Kinder zu bekommen. So dachte sie jedenfalls. Bisher war es ihr immer gelungen, eine Schwangerschaft zu verhindern. Schließlich war sie eine weise, der Heil- und Pflanzenkunde mächtige Frau und wusste, was in solchen Fällen zu tun war. Wie oft habe ich ihre kleinen, flinken Finger bewundert, wenn sie Salben zubereitete oder die Wunden ihrer Patienten behandelte. Doch für sie war es zu spät, ihre Leibesfrucht abzustoßen, vielleicht auch, weil sie die Anzeichen nicht hatte wahrhaben wollen. Mama sagte mir später einmal, insgeheim hätte sie sich immer nach Kindern gesehnt.
Damals aber vergrub sie das Gesicht in den Händen und fragte sich bange, was nun werden sollte. Eine Vision hatte ihr gezeigt, dass zwei Kinder in ihr heranwuchsen. Zwillinge, und das für eine so zarte Person wie sie. Nach dem ersten Schrecken beschwor sie wieder und wieder die Bilder herauf. Mutter hatte so sehr gehofft, sich geirrt zu haben. Aber gleichgültig, ob sie Orakel befragte oder den Stand der Sterne deutete, immer hieß es, sie würde zwei Kinder gebären – einen Jungen und ein Mädchen. Sie muss wirklich verzweifelt gewesen sein. In ihrer Not braute sie sich einen starken Aufguss aus Petersiliensamen, so wie sie es zuvor vielen Frauen empfohlen hatte. Vielleicht hast du schon von der Wirkung dieser Samen gehört?«
Cristin nickte schweigend.
»Mama brachte es allerdings nicht übers Herz, die Flüssigkeit zu trinken, denn eine innere Stimme mahnte sie,
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