Die Gordum-Verschwörung
einen Studenten, so dass Greven sich gezwungen sah, mit einem Blick Ahnungslosigkeit zu signalisieren.
„Eigentlich auf keine“, dozierte von der Laue, der sich offensichtlich in der Rolle des gefragten Experten gefiel. „Denn es sind lediglich zwei Dokumente aus dem 14. Jahrhundert bekannt, ein Testament eines Hamburger Bürgers und eine Handelsurkunde, in denen der Ortsname Rungholt genannt wird. Wie die Stadt ausgesehen hat, wo sie genau gelegen hat, wie viele Einwohner sie gehabt hat, verraten diese Dokumente nicht. Nur den Namen geben sie preis, sonst nichts. Der Rest ist Mythos. Und trotzdem stellen Heimatforscher regelmäßig das ganze nordfriesische Watt auf den Kopf, um Rungholt zu finden. Kaum ein Jahr vergeht, in dem nicht einer von ihnen neue Hinweise und Spuren gefunden haben will.“
„Aber gibt es da nicht eine alte Karte?“, meinte Greven und versuchte so, Anschluss an den Vortrag zu halten.
„Richtig, mein Lieber.“
Wenn Greven eine Anrede hasste, war es diese. Mein Lieber. Sofort erhob er mit einem ernsten Blick Protest, doch das schien den Referenten nicht im Mindesten zu beeindrucken.
„Sie meinen sicher die Karte von Johannes Mejer aus dem Jahre, Moment, lassen Sie mich überlegen … 1636. Die haben Sie bestimmt in der Sendung des NDR gesehen. In der Tat, diese Karte zeigt Rungholt, und zwar als bedeutende Stadt. Doch gezeichnet wurde sie gute zweihundertfünfzig Jahre nach dem Untergang Rungholts. Der Zeichner hat sich also nur auf Mutmaßungen stützen können, ganz abgesehen von den unzulänglichen Möglichkeiten der Kartographie im 17. Jahrhundert. Sie verstehen?“
„Durchaus, aber mein Interesse richtet sich ja in erster Linie …“
„Vineta, genau“, setzte von der Laue seinen Vortrag fort und begann nun wie ein respektabler Professor in seinem Audimax auf und ab zu marschieren, während Greven endgültig die Rolle des Studenten zukam. „Vineta wurde erstmals von dem Kirchenchronisten Adam von Bremen gegen Ende des elften Jahrhunderts erwähnt, allerdings noch unter dem Namen Jumne, die er als größte und schönste Stadt Europas pries. Unermesslich reich soll Vineta gewesen sein, zwölf Stadttore besessen haben und Kirchenglocken aus reinem Silber. Das dort gesponnene Garn soll aus purem Gold gewesen sein. Gelegen haben soll sie an der Ostseeküste bei Usedom. Verschiedenen Legenden zufolge soll die Stadt entweder im 13. oder 14. Jahrhundert von den Dänen zerstört worden oder einer Sturmflut zum Opfer gefallen sein. Genaues weiß man nicht. Auch Vineta wird bis heute von Forschern gesucht. Selbst Satellitenbilder wurden kürzlich zu Rate gezogen, dabei ist bis heute keineswegs einwandfrei geklärt, ob Vineta tatsächlich existiert hat, denn die Quellenlage ist, wie im Fall von Rungholt, äußerst …“
„Und Gordum?“, unterbrach der lernwillige Student den Redefluss des Dozenten, der noch immer auf und ab wanderte, seinen Schüler fest im Blick, die Hände nun hinter seinem Rücken.
„Ach ja, Gordum. Waren Sie nicht deswegen gekommen?“
Greven nickte voller Erwartung, seinen Block noch immer im Anschlag.
„Gordum, mein lieber Herr Inspektor …“
„Hauptkommissar.“
„… mein lieber Herr Hauptkommissar …“
„Nur Hauptkommissar. Das reicht voll und ganz.“
„Also Gordum ist wie Rungholt und Vineta ebenfalls ein Mythos, eine der vielen Varianten des Atlantismythos, denn auch die Existenz dieser Stadt ist mehr als fraglich.“
„Wo hat sie gelegen?“
„Wo soll sie, wo könnte sie gelegen haben?“
„Natürlich.“
Von der Laue wanderte zu einer großen Ostfrieslandkarte, die gleich neben der Tür an der Wand hing, Greven folgte ihm willig. „Sehen Sie, vor gut zweitausend Jahren gab es die Ostfriesischen Inseln noch nicht, jedenfalls nicht in der uns heute vertrauten Form, und das Küstengebiet mit der Marsch reichte über die heutigen Inseln hinaus in die Nordsee. Damals lag der Meeresspiegel deutlich niedriger. Der griechische Geschichtsschreiber Strabon, lateinisch Strabo, erwähnt im siebten Buch seines geographischen Werkes, in dem er Germanien beschreibt, die Insel Byrchanis. Einige Hinweise lassen den Schluss zu, dass diese Insel in der Emsmündung lag und im Jahre 12 vor unserer Zeitrechnung von den Römern erobert wurde. Die Feldherren Drusus und Tiberius, Brüder übrigens, dürften Ihnen wahrscheinlich bekannt sein.“
Greven schrieb und nickte.
„Dies geschah im Auftrag des Kaisers Augustus, des Stiefvaters der beiden
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