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Die Gordum-Verschwörung

Die Gordum-Verschwörung

Titel: Die Gordum-Verschwörung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Flessner
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einfach nicht an den aktuellen Diskursen, überließ sie der Welt, den anderen, den Großstädtern, denen, die jenseits einer imaginären Grenze lebten, weit weg im Süden. In Ostfriesland gehen die Uhren anders, war die entsprechende Einstellung, die ihren materiellen Ausdruck in kitschig-nostalgischen Wanduhren fand, deren Zeiger sich gegen den Uhrzeigersinn drehten. Oder in kleinen Plastikgloben, auf denen nur ein Erdteil zu erkennen war. Ostfriesland als Pangäa, als erster und letzter Kontinent, als Mond, der in sicherem Abstand um die Außenwelt kreiste. Gern klammerten sich auch Politiker und Kolumnisten an diese weit verbreitete Einstellung, gaben dem Halbinselcharakter, gaben der geografischen Randlage Ostfrieslands die Schuld an ökonomischen Problemen und sonstigen Defiziten.
    Dabei übersah man ständig Entwicklungen, die das Land ungefragt und unaufhaltsam attackierten. Die Welt fand nun einmal statt, auch in der Provinz, auch wenn man sich nicht an den Diskursen beteiligte. Natürlich war die ganze Welt eine Bühne, nicht erst seit Shakespeare, und natürlich war die am häufigsten gespielte Gattung die Farce, die die Posse und die Tragikomödie auf die Plätze verwies. Aber in der Provinz waren die Stücke immer noch am deftigsten, war die Allgegenwart des Abgrunds noch deutlicher spürbar. Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Auch ein Nietzsche-Zitat, das ihm wieder eingefallen war, das sie zu erörtern hatten, irgendwann in der Oberstufe. Heute war es sein Beruf, in Abgründe zu blicken. In die wirklich tiefen noch dazu. Die seichteren standen täglich in der Zeitung.
    Dort las man über Stadträte und Kommunalpolitiker, die die Lösung für die mühsam aufgehäuften wirtschaftlichen Probleme der Region darin sahen, alle verfügbaren Gelder ins klassische Industriezeitalter zu investieren. Dass dieses Zeitalter längst das Zeitliche gesegnet hatte und die Zeichen der Zeit längst die der Echtzeit waren, dass andere Städte und Regionen froh waren, in den letzten zwanzig Jahren die klebrigen Reste der vergangenen Epoche endlich abgestreift zu haben, um neuen Strukturen den Weg bereiten zu können, war vielen Rednern, wie Mona es einmal treffend formuliert hatte, irgendwie noch nicht so recht bekannt.
    Das Ende der großen Entwürfe? Postmoderne? Wissensgesellschaft? Virtuelle Unternehmen? Nachhaltige Entwicklung? Sanfter Tourismus? Als Greven seinen Dienst in Aurich antrat, wurden diese Begriffe allenfalls mit spitzen Fingern weitergereicht und diejenigen, die sie für die Region in die Waagschale zu werfen versuchten, als Nestbeschmutzer und Eierköpfe beschimpft.
    Vertieft in diese Gedanken, erreichte er Norddeich, landete auf dem Staudamm in Richtung Norden und kämpfte sich im zweiten Gang bis zum Fletumer Weg durch.
    Gernot Djuren wohnte in einem typischen Siebziger-Jahre-Bungalow aus fast blau gebrannten Klinkern und mit großen Panoramafenstern. Die Wiese war seit Wochen nicht gemäht worden, und im Vorgarten triumphierte die Natur. Eine Frau mittleren Alters und doch alterslos, die sich auch gleich als ambulante Altenpflegerin zu erkennen gab, öffnete ihm.
    „Ich weiß, Sie haben mit Herrn Djuren telefoniert“, empfing sie ihn kühl, „doch ihm geht es seit gestern wieder extrem schlecht. Am Nachmittag wird er ins Krankenhaus gebracht. Aber bitte, wenn es unbedingt sein muss!“
    Im Wohnzimmer des Bungalows stieß Greven auf den greisen Oberstudienrat, in dessen ausgezehrtem Gesicht bereits der Tod kauerte. Zwar hatte er ihm am Telefon mit schleppender Stimme erzählt, dass er krank sei, aber nicht, wie krank. Die Augen waren trüb, gelb und blutunterlaufen, die Wangenknochen traten aus dem Gesicht hervor und ließen es einem Totenschädel gleichen. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch sein fast weißes Haar, das in spärlichen Büscheln hier und da von seinem Kopf abstand, der übersät mit Altersflecken war. Sein ausgezehrter Körper lag unter einer Decke verborgen in einem ledernen Fernsehsessel, der in die Liegeposition zurückgeklappt war. Auf dem niedrigen Wohnzimmertisch war ein ganzes Arsenal von Medikamenten gegen das Unabwendbare in Stellung gebracht worden. Daneben stand das Telefon, mit Wählscheibe und noch aus grauem Bundespostkunststoff. Als der Greis den Kommissar sah, hob er zum Gruß mühsam seine rechte Parkinsonhand.
    Greven kannte Djuren. Jedenfalls dem Namen und dem Gesicht nach, auch wenn er, versunken in seinem Sessel,

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