Die Gordum-Verschwörung
griff ins Gras. Auf dem Foto, das Hansen in Harms Kutter aufgenommen hatte, schien das Buch größer zu sein. Was er in Händen hielt, war eher eine Broschüre im Taschenbuchformat. Im Vorwort des 1968 erschienenen Werkes gestand der Autor ein, keinen regulären Verlag gefunden zu haben. Er hatte das Büchlein im Selbstverlag veröffentlichen müssen. Auflage ganze einhundertfünfzig Exemplare, gedruckt in den Werkstätten der Lebenshilfe.
Die Einleitung bestand aus längst Bekanntem über den ewigen Kampf zwischen Land und See, der Küstenlinien veränderte, Inseln entstehen ließ und Ortschaften von der Landkarte sturmflutete. Zwischeneiszeitliche Hebungen. Dünkirchen-Transgression. Spätmittelalterlicher Meeresvorstoß. Entstehung der Ostfriesischen Inseln. Julianenflut. Marcellusflut. Greven überschlug die Kapitelchen, die jedem Ostfriesen halbwegs vertraut waren. Er blätterte sich vor, bis Djuren endlich in medias res ging.
Gordum. Das römische Gortunis. Gelegen auf einem Rest der Insel Burchana, einer Insel aus Marschland, vor Jahrtausenden Teil des Festlandes und ebenso lange besiedelt. Wichtiges Handelszentrum an der deutschen Nordseeküste bis zum Untergang 1362. Er überflog die Seiten. Auch Djuren wusste so gut wie nichts über Gordum und wies ebenfalls auf die mehr als spärliche Quellenlage hin, zitierte Strabo, Plinius, Vellejus von Syrakus und Himel von Torum. Im Gegensatz zu von der Laue kam er jedoch zu dem Schluss, dass Gordum tatsächlich existiert hatte und kein reiner Mythos war. Er stützte seine Argumentation auf sekundäre Indizien, in erster Line auf Handelsbeziehungen und bestimmte Seehandelsrouten, auf Frachtbriefe und Urkunden, in denen Ortsnamen wie Gord oder Gorhum auftauchten, die Djuren ohne große Mühe als Gordum deutete. Außerdem präsentierte er den Ausschnitt einer Karte aus dem Jahr 1575, die dem bekannten Kartographen Lucas Jansz Waghenaer zugeschrieben wurde. Die Karte war nicht genordet, sondern gesüdet, zeigte also unten die Nordsee und oben die Küste Ostfrieslands. Laut Djuren war diese Karte ein Entwurf für Waghenaers 1585 in Leiden gedruckte Karte Beschreibung der Seeküsten Ostfrieslands mit allen Untiefen und Seezeichen . Im Gegensatz zu dieser Karte war der Entwurf noch stark verzeichnet. Dafür zeigte er ein Detail, das auf der späteren Karte fehlte: eine kleine Insel, kaum größer als das heutige Baltrum und versehen mit der Skyline einer Stadt, die den Namen Gordhum trug. Mitten in der Emsmündung zwischen ostfriesischer und holländischer Küste gelegen. Dass Kartographen in jener Zeit hier und da auch Orte aufnahmen, die die See längst getilgt hatte, sei nichts Ungewöhnliches, erklärte Djuren, und nannte ein halbes Dutzend Beispiele. Auch Rungholt war darunter.
Greven war wie elektrisiert. Die Silhouette der Stadt war eine kleine Zeichnung, die drei Ständerwindmühlen, zwei Kirchtürme, mehrere andere große Gebäude und einen stattlichen Hafen zeigte, in dem mehrere Schiffe lagen. Die kleine Stadtansicht, die auf der Karte nur eine von vielen Detailzeichnungen und Seitenansichten war, ließ erneut seinen Adrenalinspiegel ansteigen. Denn sie verschaffte ihm zum ersten Mal eine Vorstellung von dem Motiv. Das war das Motiv, dessen war er sich nun endgültig sicher, zumal auf der nächsten Seite die Abbildung einer Münze folgte, eines Goldgroschens, wie er ihn in der Tasche trug. Diese Münze, behauptete der Geschichtslehrer, sei nicht in Göteborg oder Groningen, sondern in Gordum geprägt worden, wofür es durchaus numismatische Beweise gäbe, die auch prompt folgten.
Daher also hatte Harm die Münze, die er irgendwo im Watt gefunden haben musste, sofort Gordum zuordnen können. Vielleicht war er auch noch auf andere Hinweise gestoßen, auf Reste von Gebäuden, Steine, konserviertes Holz oder was auch immer, aber die Münze ließ sich mitnehmen und hatte dank ihres Fundortes eine unwiderstehliche, geradezu magische Beweiskraft. Zumindest für Menschen, die von der Existenz Gordums überzeugt waren.
Greven lehnte sich wieder zurück ins Gras. Er beschloss, nicht nach Aurich zurückzufahren, sondern Herrn Jacobs einen zweiten Besuch abzustatten. Denn die Abbildung in Djurens Buch war in Schwarz-Weiß und alles andere als gestochen scharf, ganz so, als hätte er sie aus einem anderen Buch übernommen. Und Harm war kein Numismatiker. Aber Jacobs. Wenn es um ein kompetentes Urteil ging, war er in Ostfriesland erste Wahl. Sein merkwürdiger
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