Die Gordum-Verschwörung
Greetsiel war vollständig besetzt. Greven erkannte viele Gesichter, einige hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Auch die Fischer waren gekommen, obwohl Harm keiner von ihnen gewesen war. Aber dennoch sei er einer von ihnen gewesen. So ähnlich hatte ihm der alte Ysker das Erscheinen erklärt. Greven fand sofort Gefallen an dieser Logik und versuchte, sie auf sich selbst anzuwenden. Dieses Dorf ist mein Dorf, obwohl es dies nie wirklich gewesen ist, formulierte er auf der harten Kirchenbank.
Ihm gegenüber, auf der anderen Seite der Kanzel, saß Harms in sich zusammengesunkene Mutter, flankiert von ihrer Tochter und ihren Enkeln. In der nächsten Bank folgten Gesine, Karl, Margret, Anne, Ralf und andere aus der alten Clique. Nicht alle konnte er auf Anhieb zuordnen, denn auch an ihnen war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Weiter hinten erkannte er Thea Woltke, in Schwarz und hochgeschlossen. Sah auch gut aus. Neben ihr saß Jabbe de Vries in einem Dress, mit dem ihn Mona begeistert auf jede Vernissage mitgeschleppt hätte.
Der Beerdigung eines Mordopfers eilt von jeher der Ruf voraus, auch vom Täter besucht zu werden, so dass der zuständige Ermittler nur kritischen Auges die Anwesenden belauern muss, um ihn aus den Trauernden und Gaffern herauszufischen. Zumindest im Film wird dieses dramaturgische Gesetz regelmäßig zelebriert. Im profanen Alltag meiden jedoch die Mörder die Gräber ihrer Opfer. Das war zumindest Grevens Erfahrung. So registrierte er zwar aufmerksam jeden Anwesenden, machte sich aber keine großen Hoffnungen, Harms Mörder hier aufzuspüren. Außerdem hatte er Jaspers und Ackermann im Schlepptau, die auf ihren Notizblöcken bereits Listen der Anwesenden anlegten, soweit sie ihnen bekannt waren. Auf Jaspers Block waren einige Namen auch schon mit Fragezeichen versehen oder unterstrichen. Sehr gut, dachte Greven, das bringt uns bestimmt weiter.
Orgelpfeifen röhrten, die versammelte Gemeinde stimmte ein Lied an. Der Pastor, den er zum ersten Mal sah und in Aktion erlebte, charakterisierte Harm Claasen als einen vom richtigen Weg Abgekommenen, als einen Gestrauchelten, dem es versagt geblieben sei, einen festen Platz im Leben zu finden. Er sah in ihm ein Opfer, und das nicht nur im Tod, sondern auch im Leben, einen verirrten Menschen, der den Versuchungen und Verlockungen unserer Zeit erlegen sei, der sich nicht hatte wehren können gegen Drogen und falsche Ideale. Sein Schicksal sei Zeit seines Lebens fremdbestimmt gewesen, wie auch sein Tod, für den der Pastor einen Täter verantwortlich machte, der in seinen Kreisen zu suchen sei. Wo auch sonst.
Harms Mutter begann, in sich selbst verkrochen, leise zu weinen. Der Pastor hebelte weiter Harms Leben aus den Angeln. Greven kochte. Er hatte Mühe, sich auf der Bank zu halten. Einzig der Respekt vor dem Haus und die Absicht, nicht schon wieder eine Beerdigung platzen zu lassen, hielten ihn davon ab, aufzuspringen und mit einer Gegenrede den toten Freund vor einem weiteren Anschlag zu retten. Er suchte Zustimmung für sein unterdrücktes Vorhaben und fand es in den Reihen gegenüber. Auch dort empörten sich Mienen und rutschten Hintern unruhig hin und her, auch dort wusste offenbar niemand, wie der Pastor, der Harm kaum gekannt haben dürfte, zu seinem Urteil gekommen war, wie er sich überhaupt ein solches Urteil erlauben konnte, ohne je zur Clique gehört zu haben. Wortloser Widerspruch wurde hörbar, störte die Stille, nach der jede Trauerandacht verlangte.
Die hörbare Unruhe begleitete den schlichten Sarg, den Harm sicher ganz anders gebaut hätte, aus alten Decksplanken vielleicht, aus Treibholz oder Teekisten, auch auf dem Weg zum Friedhof. Greven überließ den Trauerzug Jaspers und Ackermann und reihte sich in die alte Clique ein, die sich ein bisschen abgesetzt hatte. Man nickte sich zu, reichte sich die Hände, schüttelte den Kopf über die Predigt des Pastors, der zwar einen Menschen charakterisiert hatte, nicht aber Harm. So wurden an diesem Tag zwei verschiedene Menschen gleichzeitig zu Grabe getragen, vielleicht sogar noch mehr.
Nach der eigentlichen Beisetzung, die ohne Zwischenfälle verlief, teilte sich die Gemeinde. Die Familie zog sich mit einigen Bekannten ins Gemeindehaus zur obligaten Teetafel zurück; die alte Clique nahm in der Börse Quartier, einem traditionsreichen Greetsieler Lokal in der Mühlenstraße, schräg gegenüber der Kirche. Gesine hatte einen Tisch reserviert und zur Überraschung aller
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