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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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der Druckerwerkstatt, die in einer Seitengasse zwischen der Kathedrale und der Synagoge lag. Doch der Neffe des Meisters, Samuel Usque, hörte sie nicht, obwohl er direkt unter dem offenen Fenster saß. Er war vollkommen vertieft in die Lektüre lang ersehnter Druckfahnen, von denen sein Onkel ihm an diesem Morgen den ersten Abzug ausgehändigt hatte. Die spanische Bibel hatte er noch im Auftrag von Dona Gracia verfasst, zusammen mit einer Reihe anderer Autoren. Doch dieses Werk, das er nun gesetzt und gedruckt in Händen hielt, um mit glühenden Wangen darin zu lesen, bedeutete ihm mehr als sein Leben: die Geschichte des Volkes Israel, von den frühesten Anfängen bis zur Gegenwart - zur Tröstung für alles Unrecht, das die Juden erlitten hatten ... Ja, Samuel Usque hatte sein großes Werk vollendet und konnte es gar nicht abwarten, das erste gebundene Exemplar seiner Herrin und Förderin Gracia Mendes zu überreichen.
    Ein Spritzer Wasser traf ihn im Gesicht und schreckte ihn aus der Lektüre auf. »He, was soll das?«
    Verärgert drehte er sich um. Alfredo, der rothaarige Geselle seines Onkels, stand mit einem Eimer neben der Druckpresse und machte ein wichtiges Gesicht.
    »Kannst du mir mal sagen, was du da treibst?«, fragte Samuel. »Du versaust mir meine ganzen Fahnen.«
    »Weihwasser«, sagte Alfredo und tauchte einen Sprenger, wie der Pfarrer ihn bei der Messe benutzte, in den Eimer. »Gegen die Pest!«
    »Um Himmels willen!«, rief Samuel. »Hör sofort auf mit dem Unsinn!«
    »Don Salvatore hat aber gesagt ...«
    »Don Salvatore ist wohl nicht bei Trost! Wenn du hier mit Wasser rumspritzt, verteilst du nur die Miasmen.« »Die Mi... was?«
    »Winzig kleine Teile, durch die sich die Pest ausbreitet. Jeder, der damit in Berührung kommt, steckt sich an.«
    »Heilige Dreifaltigkeit!« Vor Schreck ließ Alfredo den Sprenger in den Eimer fallen. Doch seine Angst verflog so schnell, wie sie gekommen war. »Don Salvatore ist Priester und darum schlauer als Ihr. Und er hat heute in der Predigt gesagt, Weihwasser ist das Einzige, was hilft.«
    »Aber das ist doch Aberglaube!«
    »Aberglaube? Ihr seid ja nur neidisch, weil ihr Juden kein Weihwasser habt.« Wie um seine Worte zu bekräftigen, tauchte Alfredo die Hand in den Eimer, um den Sprenger wieder herauszufischen. »Don Salvatore hat extra den Brunnen am Marktplatz gesegnet, damit alle sich damit versorgen können.« »O sancta simplicitas«, seufzte Samuel.
    »Sprecht Italienisch mit mir. Eure Judensprache verstehe ich nicht.«
    »Das war nicht Hebräisch, sondern Latein und heißt >0 heilige Einfalt«
    Alfredo schaute ihn böse an. »Wollt Ihr Prügel haben?« »Reg dich nicht auf«, sagte Samuel. »Ich hab ja nicht dich gemeint, sondern Don Salvatore. Doch glaub mir, Weihwasser hilft nicht. Im Gegenteil! Genauso gut kannst du dich dreimal gegen Mekka verneigen!«
    »Ich soll mich gegen Mekka verneigen?«, rief Alfredo empört. »Wie ein Muselmane?« Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und die Empörung in seinem Gesicht wich einem Leuchten der Erkenntnis. »Jetzt weiß ich, was ihr Juden vorhabt. Ihr wollt uns Christen daran hindern, dass wir uns schützen! Damit wir alle an der Pest zugrunde gehen! Aber darauf falle ich nicht rein!« Er tauchte den Sprenger in den Eimer und hob ihn in die Höhe. »Im Namen des dreifaltigen Gottes. Des Vaters und des Sohnes ...« »Jetzt ist aber Schluss!« Samuel legte die Fahnen beiseite, und bevor ein weiterer Spritzer ihn traf, packte er Alfredo am Arm und schlug ihm den Sprenger aus der Hand.
     

29
     
    »Bringt her eure Toten! Eure Toten bringt heraus!« Als Cornelius Scheppering das Stadttor von Ferrara passierte, glaubte er, den Vorhof der Hölle zu betreten. Wohin er blickte, sah er Berge von Leichen, vor den Haustüren, auf den Pestkarren, am Straßenrand - auf- und durcheinandergeworfen wie menschlicher Abfall. Schweigend und ohne miteinander zu reden, huschten Frauen und Männer durch die Gassen, trotz der brütenden Hitze vermummt wie im Winter. Jedermann hielt einen Lappen oder ein Tuch vor das Gesicht, um nicht den fauligen Pesthauch zu atmen, der unsichtbar wie das Böse, doch allgegenwärtig zwischen den Häusern hing. Unendliches Mitleid erfasste den Dominikaner bei ihrem Anblick. Hatten diese Menschen, die doch getaufte Christen waren, alles Vertrauen in die Führung Gottes verloren? Er jedenfalls verzichtete auf kleinmütige Vorkehrungen jedweder Art - der heilige Zorn, der ihn in die Stadt geführt hatte,

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