Die Gottessucherin
sich lautes Gebrüll auf der Straße.
»Juden raus! Juden raus!«
Die beiden starrten sich entsetzt an.
»Los! Nichts wie weg!«
Durch den Hintereingang verließen sie das Haus. Im Schutz der Dunkelheit brachten sie ein paar Gassen unbehelligt hinter sich, doch aus der Ferne wogte ihnen ein wütendes Stimmenmeer entgegen, das immer mächtiger anschwoll, je näher sie der Kathedrale kamen. Gleichzeitig fühlten sie sich von einem feurigen Lichterschein bedroht, dessen gelbrote Flammenzungen zwischen die Häuser leckten und die Schatten tanzen ließen. »Juden raus! Juden raus!«
Als Samuel um die letzte Hausecke bog, die das Gassenlabyrinth vom Corso trennte, gefror ihm das Blut in den Adern. Auf der Piazza vor San Giorgio, dem größten Gotteshaus der Stadt, war die Hölle los. In gespenstischem Fackelschein, begleitet vom Sturmgeläut der Glocken, das mit ohrenbetäubendem Dröhnen von der Höhe des neu errichteten Turms zu Gottes heiliger Rache aufrief, hatte sich das Volk von Ferrara eingefunden, um die Juden aus seiner Mitte zu vertreiben. Eskortiert von berittenen Soldaten, stolperten die Verfolgten zu Hunderten in Richtung Hafen, ihr Hab und Gut auf den Schulten, wie beim Auszug aus Ägypten.
»Also spricht der Herr«, flüsterte Samuel Usque die Worte des Propheten, »ich werde das Volk mit Schwert, Hunger und Pest heimsuchen, bis ich es seiner Hand ausgeliefert habe.« Das Grauen schnürte ihm die Kehle zu. Warum war niemand da, der ihm die Augen ausstach, damit er das Elend nicht ansehen musste? Warum war niemand da, der ihm die Ohren abriss, damit das Heulen und Zähneknirschen verstummte? Alles, was hier vor seinem Angesicht geschah, sprach jeder Tröstung oder Verheißung Hohn. Das Leben ging weiter, als wäre sein Buch nie geschrieben worden, und mit dem Fortgang des Lebens setzten sich die Not und das Elend der Juden fort, in dieser Schreckensnacht von Ferrara, wie in all den Jahrhunderten und Jahrtausenden ihrer Geschichte, die Samuel Usque beschrieben hatte. »Juden raus! Juden raus!«
Jemand stieß Samuel in den Rücken, und taumelnd folgte er seinem Onkel in Richtung Hafen. Männer, alte und junge, schwankten links und rechts von ihm durch die flackernde Finsternis, in der ihre Schatten einmal wie Riesen, dann wieder wie Zwerge erschienen, mit schweren, übergroßen Kisten auf den Schultern, in Panik versuchten sie wenigstens Teile ihres Besitzes zu retten. Doch immer wieder brach einer von ihnen unter seiner Last zusammen, mitten auf der Straße sanken sie hin in den Staub, vor den Augen ihrer Kinder und Mütter und Frauen, die ihre Angst gellend zum Himmel schrien und mit erhobenen Händen ihr Schicksal beklagten, während der Pöbel am Straßenrand sie mit wütenden Rufen verfolgte. »Juden raus! Juden raus!«
Als sie endlich den Hafen erreichten, erblickte Samuel im Mondschein ein Dutzend Schiffe, die auf dem silbern glänzenden Fluss für die Fliehenden bereitlagen. Bei dem Anblick fiel Abraham Usque auf die Knie. War der Herr noch einmal mit ihnen gewesen? Samuel zerrte ihn in die Höhe. Sie müssten sich beeilen, von allen Seiten drängten Menschen herbei, auf der Flucht vor ihren Verfolgern. Doch als sie sich auf die schwankenden Planken retten wollten, traten Soldaten ihnen in den Weg, mit gezogenen Schwertern und Säbeln, um alles Geld von ihnen zu fordern, das sie mit sich trugen. »Nur wer zahlt, darf an Bord!«
Die Spitze eines Speeres auf der Brust, öffnete Samuel seine Taschen, genauso wie sein Onkel, der einem Offizier einen Beutel voller Münzen zuwarf. Der Offizier gab ihnen den Weg frei, ein altes Weib mit einer Unzahl von Kisten und Kästen, die sie zusammen mit ihren Enkelkindern hütete, rückte auf dem Schiffsdeck beiseite. Während sie Platz machte, fiel Samuel voller Schrecken ein, dass er das Wichtigste in seiner Kammer vergessen hatte: das in Leder gebundene Exemplar seines Buches, das noch auf dem Lesepult lag. »Ich muss noch mal zurück!«
»Bist du wahnsinnig?«, fragte sein Onkel. »Bleib hier! Das Schiff legt jeden Moment ab.«
Doch Samuel hörte nicht auf ihn. »Hebt das für mich auf!« Er warf seinem Onkel den Mantelsack zu, in dem er seine Habseligkeiten verstaut hatte, stieß das alte Weib aus dem Weg genauso wie den Offizier, der ihm ungläubig hinterherblickte, und lief über die Schiffsplanke zurück, um mit einem Satz an Land zu springen.
Er hatte kaum das Ufer erreicht, als es geschah. Aus dem dunklen, wütenden Heer der Männer, die ihn mit
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