Die Gottessucherin
genommen?«, wollte Sinan wissen.
»Welchen Zusatz?«
Gracia nahm den Brief noch einmal auf. Im Postskriptum nannte der Sultan die Bedingung, unter der er ihr seinen Schutz anbot: Süleyman verlangte, dass sie, Gracia Mendes, dem Sohn des kaiserlichen Großwesirs Kara Ahmed ihre Tochter Reyna als Drittfrau in die Ehe gebe - »zum Zeichen der neuen und unverbrüchlichen Freundschaft zwischen dem Hause Mendes und dem Os-manischen Reich«.
Gracia holte tief Luft und rollte den Brief wieder zusammen. »Wo ist mein Neffe José Nasi?«, fragte sie. »Ist er mit Euch nach Venedig gekommen?«
»Nein«, antwortete der Gesandte des Sultans, »Prinz Selim, Allah möge ihn schützen, möchte nicht so schnell auf die Gesellschaft seines neuen Freundes Yusuf Bey verzichten.« Er kreuzte seine Hände vor der Brust und deutete eine Verbeugung an. »Doch darf ich fragen, wie Eure Antwort lautet?«
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Mit einem Rohrstock in der Hand schritt Schwester Domenica im Kapitelsaal des Klosters vor den Hospitantinnen auf und ab. Die meisten der Mädchen waren ihr auf Geheiß des Glaubensgerichts zur Seelenbekehrung anvertraut worden, damit sie ihnen die Ordensregeln einbleuen könnte.
»Unser Leben«, schnarrte sie, »ist eine unentwegte Gottsuche in allem, was wir sind und tun.« Wie ein Offizier vor seinen Rekruten hob sie den Stock, und wie aus einem Mund fielen die Mädchen, ein Dutzend an der Zahl, in die Aufzählung ein, die Schwester Domenica mit rhythmischen Stockschlägen begleitete. »Im Schweigen und Hören ... Im Beten und Betrachten ... Im Reden und Handeln ... Im Arbeiten und Ruhen ... Im Alleinsein und im Miteinander ...«
Reyna, die zusammen mit La Chica in der ersten Bankreihe saß, knurrte der Magen. Obwohl die zwei Cousinen nicht das schwarzweiße Habit der Dominikanerinnen trugen, teilten sie seit ihrem erzwungenen Klostereintritt das Leben der Nonnen, als hätten auch sie ihr Dasein dem dreifaltigen Gott geweiht. In Armut, Gehorsam und Jungfräulichkeit verrichteten sie die Exerzitien und hielten das strenge Fasten, das die Ordensregel vorschrieb, damit der Leib nach Nahrung hungerte wie die Seele nach dem Wort Gottes. Während Reyna die Sätze zum tausendsten Mal im Chor der Mädchen repetierte, wanderten ihre Gedanken zu ihrer Tante, die das ganze Unglück heraufbeschworen hatte: erst mit ihrer Anzeige vor dem Glaubensgericht und dann mit ihrer Verleumdung wegen Juderei. Reyna hatte mit ihrer Mutter nie darüber gesprochen, hatte ihr auch nicht gesagt, dass sie am Tag ihrer Flucht aus Venedig im Palazzo Gritti gewesen sei - zu ungeheuerlich war die Lüge, mit der Brianda versucht hatte, sie auf ihre Seite zu ziehen. In der Einsamkeit ihrer Zelle betete Reyna manchmal zu Gott, dass er Brianda für ihre Verbrechen bestrafen möge. Kein Mensch hatte sie je so enttäuscht wie ihre Tante - sie wollte sie nie mehr wiedersehen.
»Der Herr gebe«, beschloss Schwester Domenica die Einübung der Regeln mit der täglichen Ermahnung, »dass ihr dies alles mit Liebe befolgt. Lebt so, dass ihr durch euer Leben den lebenweckenden Wohlgeruch Christi verbreitet. Lebt nicht als Sklaven, niedergebeugt unter dem Gesetz, sondern als freie Kinder Gottes unter der Gnade.« »Amen!«, rief La Chica.
Reyna wusste nicht, welcher Gott wirklich im Himmel regiert: der Gott der Christen oder der Gott der Juden. Doch nichts bestärkte ihren jüdischen Glauben mehr als der Anblick ihrer elfjährigen Cousine, die umso heftiger für das Jesuskind entbrannte, je mehr sie in seinem Namen gezüchtigt wurde. La Chica war schon so weit bekehrt, dass sie am liebsten für immer im Kloster bleiben wollte.
»Und warum halten sie uns hier gefangen, wenn wir freie Kinder Gottes sind?«, zischte Reyna. »Heuchlerinnen!« »Schweig still!«, zischte La Chica zurück.
»Wenn ich nur wüsste, was sie mit meiner Mutter machen. Aber nicht mal Briefe dürfen wir schreiben.«
»Du sollst still sein! Oder ich muss dich melden!«
»Ich hab solche Angst. Hoffentlich kommt José bald zurück.«
»Hör auf, von José zu reden. José ist ein Mann. Wir dürfen nicht mal an Männer
denken.«
»José ist mein Verlobter!«
»Dann ist es erst recht verboten! Jesus ist unser Bräutigam!« Noch während La Chica sprach, sauste der Stock von Schwester Domenica auf Reynas Rücken herab. Um nicht laut aufzuschreien, biss sie sich in die Hand. Schreien wurde mit zusätzlichen Stockschlägen bestraft, genauso wie Weinen. »Du bist heute von der Komplet
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