Die Gottessucherin
ihre Tochter zu erinnern? Oder war das Kind ein Sinnbild für das Volk der Juden, das sie den Höllenmächten schutzlos überließe, wenn sie für ihren Glauben in den Tod ginge?
Sie bedeckte ihr Haar mit dem Kopftuch, das ihr in der Unruhe des Schlafes vom Scheitel geglitten war, und erhob sich aus ihrem Sessel, um einen Wächter zu Cornelius Scheppering zu schicken. Sie wollte widerrufen, die Bedingungen des Dominikaners erfüllen und sich zum Gott der Christen bekennen. Haschern würde ihr verzeihen - auch in diesem Jahr hatte sie für die Entbindung von den Gelübden gebetet, zu Jörn Kippur, wie alle Juden in der Glaubensfremde.
Eine Taube saß gurrend auf der Fensterbank. Mit beiden Armen verscheuchte Gracia das Tier. Der Anblick war ihr unerträglich. Lieber wollte sie als grüne oder schwarze Taube leben statt als weiße Taube sterben.
Bevor sie zur Tür ging, nahm Gracia einen Krug vom Tisch, um ihre Hände über einer Schale mit Wasser zu übergießen. Nachdem sie die Waschung beendet hatte, griff sie zu ihrem Gebetbuch. Auch wenn sie heute ihren Glauben vor der Welt verleugnen würde, wollte sie vor Gott den Tag beginnen, wie Gott es verlangte.
»Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nach deinem Willen erschaffen hast! Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nicht als Heidin erschaffen hast! Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nicht als Sklavin erschaffen hast! Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nicht als Blinde erschaffen hast! Gepriesen seiest du, Adonai, unser Gott, König der Welt, der du mich nicht als Krüppel erschaffen hast!«
Bei den vertrauten, tagtäglich wiederholten Worten breitete sich Ruhe aus in ihr. Wie eine Arznei, die die Schmerzen des Leibes lindert, linderte die Gottesgegenwart, die sie im Gebet erfuhr, die Ängste ihrer Seele. Durchströmt von der Gewissheit, eins zu sein mit dem König und Herrn, kehrte jene Glaubensfestigkeit, die ihr so schmerzlich abhandengekommen war, wieder zu ihr zurück, um sie mit Zuversicht für diesen Tag zu wappnen, an dem sie sich vor ihrem Widersacher beugen würde, um ihr Leben zu retten, für ihre Tochter und für ihr Volk. Was immer sie tun, was immer sie entscheiden würde - solange sie eins war mit Gott, konnte sie nicht irren. Sie war das Organ seines Willens, sein Werkzeug, und folgte seinem Weg - ins ewige Leben oder in den Tod, wie immer es ihm gefiel. »Amen!«
Sie schloss gerade das Gebetbuch, als draußen auf dem Gang Stimmen laut wurden.
Voller Angst fasste sie nach dem Amulett auf ihrer Brust. Kam man schon, um sie zu holen?
41
Als die Tür aufging, glaubte Gracia, ein Traumgebilde zu sehen. Weder ein Soldat noch ein Priester trat in den Raum, sondern ein fremdländisch aussehender Mann mit einem Turban auf dem Kopf, gewandet in einen bis zum Boden reichenden Überwurf, unter dessen Saum spitze Schnabelschuhe hervorlugten. »Sinan ist mein Name«, sagte er in fließendem Latein und reichte ihr einen Brief. »Ich habe eine Botschaft für Euch. Von meinem Herrn und Gebieter, Sultan Süleyman, dem Herrscher der Gläubigen und Schutzherrn der heiligen Städte. Allah segne seinen Namen!«
Mit zitternden Händen nahm Gracia die Schriftrolle, erbrach das Siegel und überflog die Zeilen, die in kunstvoller Handschrift und verziert mit vielerlei Schnörkeln zum Inhalt hatten, dass der Herrscher der Osmanen Gracia Mendes freies Geleit anbot, indem er sie zur Untertanin seines Reiches und seiner persönlichen Schutzbefohlenen erklärte. Zugleich forderte er den Dogen der Republik Venedig auf, ihr freie und ungehinderte Ausreise nach Konstantinopel zu gewähren, einschließlich ihrer Angehörigen und ihres gesamten Besitzes sowie sämtlicher Dokumente, die sie zur Führung ihres Handelsgeschäftes benötigte. Und er drohte der Serenissima für den Fall, dass diese sich dem kaiserlichen Begehren widersetze, jedweden Warenaustausch einzustellen und nötigenfalls sogar die türkische Kriegsflotte ins Adriatische Meer zu entsenden, zur Aufnahme bewaffneter Auseinandersetzungen.
Gracia ließ das Schreiben sinken und schloss die Augen. »Gelobt seiest du, Ewiger, Herrscher der Welt, der du uns hast Leben und Erhaltung gegeben und uns hast diese Zeit erreichen lassen!« Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie in das freundlich lächelnde Gesicht ihres Retters.
»Habt Ihr auch den Zusatz zur Kenntnis
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