Die Gottessucherin
jemand dazwischen. »Er hat für uns mit dem Papst gebrochen. Außerdem hat er sich verpflichtet, den Hafen auszubauen.« »Ja, auf unsere Kosten«, erwiderte Nasone. »Doch können wir ihm deshalb trauen? Er ist ein Edomiter, ein Christ - er hasst uns nicht weniger als der Papst! Wenn irgendetwas in Pesaro passiert, wenn ein Erdbeben ausbricht oder eine Seuche, dann geht es uns dort genauso an den Kragen wie in Ancona. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Guidobaidos Sohn vor zwei Jahren in die Synagoge von Pesaro eingebrochen ist, zusammen mit betrunkenen Soldaten. Sie haben die Thora aus unserem Gotteshaus geraubt und mit den Schriftrollen ein Schwein eingewickelt und das quiekende Vieh damit durch die ganze Stadt getrieben, bis zum Palast des Herzogs!« Die wütenden Proteste wurden lauter. »Nein!«, rief Nasone. »Pesaro ist keine Lösung! Pesaro ist genauso gefährlich wie Ancona! Darum stimme ich dem Rabbiner von Bursa zu: Beenden wir die Blockade! Wer dafür ist, hebe seine Hand!«
Dutzende von Armen gingen in die Höhe. Gracia sah es mit Entsetzen. Was konnte sie nur tun, um die Katastrophe zu verhindern?
»Halt!« Sie hatte so laut in die Menge gerufen, dass unverzüglich Stille eintrat. »Wir dürfen nicht abstimmen, ohne zuvor einen Mann anzuhören, der uns an Weisheit allen überlegen ist.« Sie drehte sich zum Thoraschrein herum. »Was ist Eure Meinung, Rabbi Soncino? Dürfen wir das Leben unserer Glaubensbrüder gegeneinander aufwiegen?«
Die Männer, die schon für das Ende der Blockade gestimmt hatten, ließen ihre Arme sinken. Alle schauten auf Rabbi Soncino. Sein Wort hatte bei der ersten Versammlung den Ausschlag gegeben. Für welche Partei würde er sich jetzt entscheiden? »Ihr wollt meine Meinung hören, Senhora?«, fragte er. »Sie ist so unbedeutend wie ein Tropfen Wasser im Ozean. Was zählt, ist allein das Gesetz. Und in seinem Licht betrachtet, kann es nur eine Antwort geben.« Er richtete den Blick fest auf Gracia, und mit erhobener Stimme fuhr er fort: »Kein Jude, ob gegen seinen Willen getauft oder nicht, hat das Recht, Schutz für sich und sein Eigentum auf Kosten seiner Glaubensbrüder zu verlangen. So steht es im Talmud geschrieben. Die Conversos, die in Italien verfolgt werden, ob in Pesaro oder in Ancona, hatten die Möglichkeit, Zuflucht im Osmanischen Reich zu suchen, wo niemand sie in der Ausübung ihres Glaubens behindert hätte. Doch sie haben sich dafür entschieden, in der Glaubensfremde zu bleiben, um dort Geld und Gold anzuhäufen. Sie sind der Grund für unseren Streit, durch ihre Entscheidung, durch ihre Habgier und ihr Klammern am Besitz haben sie Zwietracht im Volk Israel gesät.«
Nachdem der Rabbiner gesprochen hatte, war es so leise, dass man das Gurren der Tauben auf dem Dach hören konnte. »Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Gracia in die Stille hinein. Mit ernstem Gesicht erwiderte Soncino ihren Blick. »So leid es mir tut, Senhora - nach jüdischem Recht muss ich gegen die Blockade stimmen. Kein Jude, ob in Konstantinopel oder in Saloniki, in Edirne oder in Bursa, soll für einen Juden leiden, der freiwillig in der Diaspora geblieben ist.«
Gracia spürte, wie ihr das Blut aus den Adern wich. Rabbi Soncino, ihr Vertrauter und Gefährte so vieler Jahre, sprach sich gegen sie aus? Sie wusste, mit der Abstimmung der Versammlung würde sich ihr ganzes Leben entscheiden. Der Auftrag, den Gott ihr gegeben hatte, ihre Mission, Tiberias, alles, was sie besaß, hatte sie dafür in die Waagschale geworfen, ihr Geld und ihr Leben — sogar bei ihrer Tochter hatte sie sich verhasst gemacht, um den Willen des Herrn zu erfüllen. In ihrer Verzweiflung schloss sie die Augen. Warum war Amatus Lusitanus jetzt nicht bei ihr? Er hätte sie unterstützt, er hätte für sie Partei ergriffen. Doch ihr Freund war an den Hof des Sultans gerufen worden. Süleyman der Prächtige war an Durchfall erkrankt.
»Möchtet Ihr noch etwas vorbringen, Senhora?«, fragte Giacobbe Nasone. »Oder sollen wir abstimmen?« Gracia suchte nach Worten. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie sagen sollte. Doch sie musste etwas erwidern, irgendetwas. Die Fortsetzung der Blockade war das Ziel ihrer Führerschaft. Wenn Gott sie als neue Esther eingesetzt hatte, die ihre Glaubensbrüder aus der Knechtschaft führen sollte, durfte sie jetzt nicht schweigen. Wenn sie schwieg, war alles verloren, wofür sie gekämpft hatte, ihr Leben lang.
Obwohl sie am liebsten fortgelaufen wäre, straffte
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