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Die Gottessucherin

Die Gottessucherin

Titel: Die Gottessucherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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das Buch des Lebens eingeschrieben hatte.
    »Ich ... ich kann nicht mehr«, keuchte sie, ganz außer Atem. »Mir dreht sich schon alles.«
    »Nein, nicht aufhören, Mutter, bitte!« »Also gut, mein Schatz, ein allerletztes Mal!« Noch einmal warf sie ihre Tochter in die Luft, so hoch, dass Reyna vor Glück laut kreischte, fing sie auf und stellte sie auf den Boden.
    »So, und jetzt müssen wir noch ein bisschen weiterlernen.« »Wie man betet? Aber Mama, das weiß ich doch!« Aufgeregt faltete Reyna ihre kleinen Hände, um das Kreuzzeichen zu schlagen.
    »Nein«, sagte Gracia scharf, »so beten die Christen, wir beten anders.«
    »Und wie beten wir?«
    »Das kommt darauf an. Jetzt ist Abend, also sprechen wir das Abendgebet. Dafür muss man aber warten, bis man mindestens drei Sterne am Himmel sehen kann.« Sie trat ans Fenster und zog den Vorhang beiseite. »Willst du mal schauen, ob es schon so weit ist?«
    Reyna kletterte auf einen Schemel und blickte mit großen Augen in den blassgrauen Himmel. »Ich kann sogar schon vier erkennen«, rief sie voller Stolz. »Nein, fünf!« »Bravo, mein Schatz, dann dürfen wir jetzt anfangen.« Gracia bedeckte ihren Kopf mit einem Schal, hob die Arme und sagte die Segenssprüche und das Schma Jisrael: »Höre, Israel, der Herr ist unser, Gott der Herr!«
    »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!«, sprudelte es aus Reyna heraus.
    »Nein, das ist falsch! Das sagen die Christen! Warum begreifst du das nicht?« Gracia holte tief Luft, um sich zu beherrschen. »Wir sagen: Gepriesen sei Gottes ruhmreiche Herrschaft immer und ewig! Aber das dürfen wir nur ganz leise flüstern.« »Gar nicht wahr!«, erwiderte Reyna trotzig. »Es heißt: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Vater hat mir das beigebracht, und Vater hat recht.« Wie immer, wenn Reyna trotzig war, kräuselte sich ihre kleine Stupsnase. Gracia seufzte. Das Kind war nicht nur ihr ganzes Glück, es war auch ein ständiger Zankapfel zwischen ihr und ihrem Mann. Schon einen Tag nach der Geburt war es wegen Reyna zum Streit gekommen. Francisco hatte darauf bestanden, sie katholisch taufen zu lassen, obwohl Gracia sich mit aller Macht dagegen gewehrt hatte. Gott hatte ihr diese Tochter geschenkt, trotz ihrer Sünde, also war es ihre doppelte Pflicht, für Reynas Seelenheil zu sorgen ... Doch das hatte sie ihrem Mann nicht sagen können, keinem Menschen konnte sie das sagen, und Francisco hatte seinen Willen durchgesetzt. Der Verzicht auf die Taufe, so hatte er entschieden, käme einem offenen Bekenntnis zum Judentum gleich - eine Provokation, die er sich nicht leisten könne. »Schau mal«, sagte Gracia und beugte sich zu Reyna herab. »Wir sind doch Juden. Also müssen wir so beten, wie alle Juden beten.« »Warum sind wir denn Juden?« »Weil wir von König David abstammen.« »Wer ist König David?«
    »König David war der König des Volkes Israel, vor langer, langer Zeit. Aus seinem Geschlecht wird der Messias kommen. Er ist der Vater vieler Juden.« »Auch vom lieben Jesuskind?«
    Reynas verstörtes Gesicht trieb Gracia Tränen in die Augen. Was hätte sie darum gegeben, ihrer Tochter diesen Zwiespalt zu ersparen. Aber durfte sie das? Aus Angst, dass Reyna sich verplappern könnte, hatte Francisco verboten, sie im jüdischen Glauben zu unterrichten, er brachte ihr stattdessen die Formeln und Rituale des christlichen Götzendienstes bei, obwohl Reyna sich mit jedem Kreuzzeichen, mit jedem Vaterunser ein Stückchen mehr dem Haschern entfremdete, dem König und Herrn. Also musste Gracia jeden Augenblick nutzen, wenn ihr Mann fort war, um mit ihr die Bräuche und Gebete ihrer Vorfahren zu üben. So wie heute, da Francisco sich am Hof aufhielt und den Sabbat schändete, um mit seinem Freund, dem König, Geschäfte zu machen. Plötzlich hörte sie Geräusche im Haus.
    »Vater! Vater ist da!«
    Reyna strahlte über das ganze Gesicht. So schnell sie konnte, kletterte sie von ihrem Schemel und lief zur Tür hinaus. »Warte! Ich komme mit!«
    Doch die Tochter war nicht mehr zu halten, so sehr drängte es sie zu ihrem Vater. Gracia war noch auf dem Treppenabsatz, als das Kind schon die Stufen zum zweiten Stockwerk hinaufstürmte, wo Francisco sein Privatkontor unterhielt. Gracia raffte ihre Röcke, um ihr zu folgen.
    »Wer sind diese Leute?«, flüsterte Reyna, als Gracia sie einholte, und starrte ängstlich durch den Türspalt in das Kontor. Ein halbes Dutzend Frauen, verdreckt und in

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