Die Gottessucherin
hinzu. Was machte es für einen Sinn, Francisco Mendes gewaltsam ein Geständnis abzuringen, wenn Tat und Täter längst bekannt waren? Er wusste ja ziemlich genau, wer Enrique Nunes auf dem Gewissen hatte. Wie Ermittlungen unter Angestellten der Firma ergeben hatten, war der Auftrag zu seiner Ermordung von Francisco Mendes persönlich erfolgt, und diesen Auftrag hatten irgendwelche Helfershelfer ausgeführt. Der einzige Zweck, den ein Geständnis in diesem Fall überhaupt haben könnte, war Profit und immer noch mehr Profit, den der Hof aus den Geschäften mit der jüdischen Kaufmannschaft zu schlagen gedachte. Francisco Mendes sollte einen Täter nennen, den der König und sein Converso-Kommissar dem Volke vorführen könnten, um weiter unverdrossen mit den Juden zu schachern. Cornelius Scheppering aber war nicht bereit, sich zu diesem Zweck in den Dienst der königlichen Geldgier und der Feinde Gottes zu stellen.
Nein, Cornelius Scheppering verfolgte ein höheres Ziel, und dafür brauchte er den Beweis eines schwerwiegenderen Verbrechens, als es die Beseitigung eines marranischen Spitzels war. Nur wenn es ihm gelänge, hieb- und stichfest darzulegen, dass dessen Tod Teil einer Verschwörung war, dass die Juden von Lissabon systematisch und im großen Stile Fluchthilfe betrieben, indem sie durch Ausnutzung ihres europaweiten Netzes von Handelsagenten und Firmenniederlassungen die mit heiligem Weihwasser getauften Scheinchristen gesetzeswidrig außer Landes brachten, damit diese zum Hohne Gottes im Reich der Muselmanen ihr lästerliches Unwesen trieben - nur dann konnte Gran Pietro Carafa den zaudernden Papst in Rom, der den jüdischen Einflüsterungen ein gefährlich offenes Ohr lieh, ein für alle Mal dazu zwingen, der Einsetzung des Glaubensgerichts im Königreich Portugal stattzugeben. Allein, die Zeit drängte. Cornelius Scheppering musste zu einem Ergebnis im Sinne Gottes und der Inquisition gelangen, bevor sein Rivale Aragon den Fall im Sinne des Königs und des Mammons entschied. Mit einem Seufzer kehrte Cornelius an sein Schreibpult zurück. Noch immer stiegen die fäkalischen Ausdünstungen der Unterwelt von den Papieren auf, die man bei Enrique Nunes gefunden hatte - ein Gestank nach Kloake und Gottesverrat. Aber Cornelius lag es fern, die Nase zu rümpfen. Er wusste, in diesen Papieren mit ihren endlos langen Zahlenreihen war die Wahrheit verborgen. Die Wahrheit, die er brauchte, damit Gottes Gerechtigkeit in Gestalt der Inquisition endlich Einzug halten konnte ... Doch die Wahrheit gab sich ihm nicht preis, wie eine keusche Jungfrau verhüllte sie vor ihm ihr Antlitz. Immer wieder hatte er versucht, die verfluchten Kolonnen zu entziffern, so oft, dass er sie schon fast auswendig hersagen konnte - ohne Erfolg. Die Zahlen ergaben einfach keinen Sinn.
Aber Cornelius Scheppering gab nicht auf: Wenn es Gottes Wille wäre, würde er die Lösung finden. Die Texte waren nach den Regeln der gematrischen Kunst verschlüsselt. Diese teuflische Erfindung der Juden, eine ungesunde Geistesakrobatik, die sie selbst »Zutat der Weisheit« nannten, beruhte auf der Tatsache, dass es in der hebräischen Sprache keine speziellen Zeichen für Zahlen gab, sondern an deren Stelle Buchstaben verwendet wurden. Jedes Wort konnte darum auch als eine Gruppe von Ziffern gelesen werden. Deren Summe wiederum stand dann für ein weiteres Wort und konnte zu anderen Zahlen und Wörtern in Beziehung gesetzt werden. Auf diese Weise suchten die Mosesjünger den heiligen Schriften einen zusätzlichen Sinn abzulesen, der einem braven Christenmenschen verborgen blieb. Die rätselhafte »Zahl des Tieres« etwa, von der die Offenbarung des Johannes in der Bibel spricht, wurde in dieser Auslegung zu einem Hinweis auf den Tod und Verderben bringenden Kaiser Nero. All diese Geheimnisse waren Cornelius Scheppering vertraut, ebenso die profane Anwendung der gematrischen Kunst durch manche marranischen Kaufleute, die sich des Verfahrens bedienten, um damit vertrauliche Firmennachrichten zu verschlüsseln. Das simple Prinzip war, dass jede Zahl einem bestimmten Buchstaben entsprach. Doch welche Zahl stand für welchen Buchstaben? Um sich vor Verrat und Entdeckung zu schützen, wechselten die meisten Kaufleute, die ihre Akten kodierten, den Schlüssel regelmäßig.
Als Kontorist der Firma Mendes hatte Cornelius Scheppering selbst jedes Jahr einen anderen erlernen müssen. Einige dieser Schlüssel waren ihm noch in Erinnerung, und er hatte sie an den
Weitere Kostenlose Bücher