Die Gottessucherin
Zahlenreihen ausprobiert. Aber es war wie verhext, er tastete im Dunkeln wie ein Blinder mit seinem Stock. Plötzlich fiel Cornelius etwas ein: eine kleine, unscheinbare Merkwürdigkeit in der Art und Weise, wie die Firma Mendes zu Zeiten seiner Antwerpener Anstellung ihre Kodierung zu bestimmen pflegte. Als Schlüssel wurde stets ein Datum zugrunde gelegt, das in der Familie eine Bedeutung hatte. Einmal diente Francisco Mendes' Geburtstag zur Kodierung, dann der seines Bruders, ein anderes Mal der Tag eines bedeutenden Geschäftsabschlusses. Aber welches Datum es auch immer war, es bezeichnete stets ein wichtiges Ereignis in der Familie. Cornelius Scheppering trommelte mit den Fingern auf dem Pult. Was war das wichtigste Ereignis der Familie Mendes in dem Jahr gewesen, in dem Enrique Nunes ermordet worden war? Cornelius brauchte für die Antwort keine Sekunde - nur ein Ereignis kam in Frage! Erregt ging er zum Regal an der Wand, um in dem Aktenordner zu suchen, der alle Notizen enthielt, die er sich zu dem Fall gemacht hatte. Da - da war es, das Datum der Hochzeit von Francisco Mendes und seiner Braut Gracia Nasi: der zwanzigste Mai des Jahres 1528.
War das der Schlüssel? Die Zahl 20 konnte den zwanzigsten Buchstaben des Alphabets bedeuten. Der zwanzigste Buchstabe war T, also war die Zahl i = T, 2 = U, 3 = V und so weiter und so fort. Cornelius probierte es aus. Aber ach, es funktionierte nicht, das Ergebnis las sich wie das Gestammel eines Narren. Unwillig nagte er an seiner Lippe. War dann vielleicht der Mai der Schlüssel, der fünfte Monat im Jahr? Auch dieser Versuch blieb ohne Erfolg. Enttäuscht, aber nicht entmutigt, schrieb Cornelius beide Zahlen auf ein Blatt Papier und starrte sie an. Vielleicht lag die Lösung gar nicht in ihrem absoluten Wert, sondern in ihrem Verhältnis zueinander ... Was passierte, wenn man sie addierte ? Oder miteinander multiplizierte? Oder durcheinander teilte? Leise murmelte er die Gleichung vor sich hin: Zwanzig geteilt durch fünf gleich vier ...
Es war wie eine Offenbarung. Das Wunder des Geistes, der Gottesfunke, durch den der Schöpfer den Menschen zu seinem Ebenbild erhob, hatte die Erleuchtung bewirkt. Als hätte ein Zauberstab die Zahlenreihen berührt, gaben sie ihr Geheimnis preis, und die Bedeutung der eben noch rätselhaften Zeichen trat mit einem Schlag so klar und fassbar zutage, als wären sie schlichtes Latein. Der Sieg des Lichtes über die Finsternis! Der Triumph der Wahrheit über die Lüge! Buchstabe für Buchstabe entzifferte Cornelius die Verbrechen der Vergangenheit, unwiderlegbare Beweise: Die Notgesuche jüdischer Flüchtlinge ... die Eintreibung ihrer Gelder ... die Spekulation auf steigende Getreidepreise ... die Auszahlung der Gewinne im Ausland ... Nur die Namen der Betroffenen ließen sich nicht enträtseln. Offenbar waren sie mit einem gesonderten Schlüssel kodiert. Cornelius faltete die Hände, um Gott mit einem Gebet zu danken. Dann verließ er die Zelle, die seine Glaubensbrüder ihm für die Dauer seines Aufenthaltes in der Stadt zur Verfügung gestellt hatten, und eilte zur Klosterpforte. »Eine Sänfte, sofort!«
Er musste Francisco Mendes verhören, ohne die Namen waren die Beweise vor dem Papst nichts wert. Er brauchte ein Geständnis, selbst wenn er seinen eigenen Prinzipien untreu werden musste, um das letzte fehlende Körnchen Wahrheit aus dem verstockten Menschen herauszuprügeln!
Während er auf die Sänfte wartete, die ihn zum Castelo de Sao Jorge bringen sollte, kam ihm eine Zeile in den Sinn, der er während der Entschlüsselung kaum Beachtung geschenkt hatte: ein Passus über ein Medaillon der Braut, mit einem Bildnis von empörender Doppeldeutigkeit. Auf diesem Medaillon, so hatte Enrique Nunes geschrieben, sei entweder die Jungfrau Maria abgebildet - oder eine jüdische Königin. Obwohl Cornelius auch ihren Namen nicht hatte entziffern können, beschlich ihn das seltsame Gefühl, dass die Identität dieser Frau von entscheidender Bedeutung für seine Sache wäre. »Na endlich!«
Er wollte gerade in die Sänfte steigen, da spürte er etwas Feuchtes, Warmes auf seiner Tonsur. Unwillkürlich fasste er sich an den Schädel - eine Taube hatte sich auf die kahle Stelle seines Kopfes entleert. Während er sich den Dreck an der Kutte abwischte, unterdrückte er einen Fluch. Doch dann sah er die gurrende Taube, und ein Lächeln erfüllte sein Herz. Hatte Gott ihm ein Zeichen geschickt? Nein, es hatte keinen Sinn, Francisco Mendes
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