Die Gottessucherin
zu. Waren die Jünger, die Jesus einst zum Christentum bekehrt hatte, nicht genauso Juden gewesen wie sie? Diese Juden hatten die Botschaft angenommen und sich zu Jesus Christus bekannt. Warum folgte sie ihnen nicht nach? Auf einmal hatte Gracia das Gefühl, dass Gott vielleicht nur darum so lange geschwiegen hätte, um sich ihr in diesem Augenblick zu offenbaren - als der wahre und dreifaltige Gott.
»Und siehe: Alle, die sein Wort annahmen, ließen sich taufen, und es waren über dreitausend Menschen, an einem einzigen Tag. Darum hört, ihr Juden von Lissabon: Folgt dem Beispiel eurer Väter! Befreit euch aus der Knechtschaft der Lüge und des Scheins! Entflieht der Heimlichkeit eures Götzendienstes! Macht Schluss mit den falschen Lippenbekenntnissen! Bekennt euch zu dem wahren und dreifaltigen Gott! Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!« »Amen!«, erwiderte die Gemeinde im Chor. Während die Gläubigen das Kreuzzeichen schlugen, verharrte Gracias Hand unschlüssig in der Schwebe. Sprach der Prediger nicht aus, was sie in ihrem Herzen längst selbst dachte? Stets hatte sie die Entbindung von den Gelübden verachtet, den falschen Schein und die Lippenbekenntnisse, um schließlich wie alle anderen bei dieser Lüge Zuflucht zu nehmen. Reyna nickte ihr zu, als wollte sie die Mutter auffordern, sich gleichfalls zu bekennen. Der Blick aus ihren Kinderaugen traf Gracia in ihrer Seele. War ihre Tochter Gottes Werkzeug, mit dem er seinen Willen verkünden wollte ?
»Gott ist die Liebe! Wie der Vater den verlorenen Sohn, nimmt er jeden auf in sein Haus, der reuigen Herzens zu ihm findet. Darum hört auf den Ruf, wie eure Vorfahren es getan haben! Christus ist euer Erlöser! Folgt ihm nach in das Haus des dreifaltigen Gottes! Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!«
Gracia zögerte noch immer. Warum schickte Gott ihr kein Zeichen? Suchend schweifte ihr Blick über die Bilder an den Wänden und Fenstern, die den Glauben der Christen bezeugten, von der Erschaffung der Welt bis zur österlichen Auferstehung. Doch keines der Bilder hatte eine Bedeutung für sie - fremde, unverständliche Zeichen, die ihr Herz nicht berührten. Da fiel ihr Blick auf einen Seitenaltar. Auf der dunklen Tafel war eine Taube abgebildet. Mit einem Ölzweig im Schnabel, weiß und rein schwebte sie über der grauen Wasserwüste der Sintflut, der endlosen Ödnis des Sündenmeeres. Bei dem Anblick wurde alle Erinnerung in Gracia Gegenwart. War das nicht die Taube, die sie immer hatte sein wollen? Und während alles Denken schwieg, formten ihre Lippen ganz von allein das bekennende Wort: »Amen!«
Reyna sah, wie ihre Mutter das Kreuzzeichen schlug, und ihr kleines Gesicht strahlte vor Freude. Sie schlang ihr die Arme um den Hals, und während Gracia sie an sich drückte, drehte sich Dom Mario, ein Minister des Königs, zu ihnen und lächelte ihnen zu. Seit Monaten warb er um Gracias Hand, doch erst jetzt bemerkte sie die Freundlichkeit in seinen Augen, die Grübchen auf seinen Wangen. Wäre es wirklich so schlimm, diesen Mann zu heiraten? Als seine Frau dürfte sie in der Heimat bleiben, um für immer in Frieden zu leben, zusammen mit ihrer Familie, wie Brianda es erträumt hatte, frei von Angst um ihre und Reynas Zukunft. Mit einem Nicken erwiderte Gracia seinen Gruß. »Doch auch dies sagt der Herr«, rief der Bischof von der Kanzel. »>Wer nicht für mich ist, ist wider mich!< Nur wer dem Götzen abschwört und sich zum wahren Gott bekennt und seinem eingeborenen Sohn, der soll errettet werden. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!« »Amen!«, erwiderte die Gemeinde im Chor, und wieder bekreuzigte Gracia sich.
»Diejenigen aber, die sich die Ohren mit Wachs verstopfen, um seine Botschaft zu fliehen, die weiter den Götzen anbeten und ihre Söhne beschneiden und den Sabbat heiligen, die sollen zerstreut werden in alle Winde. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!« »Amen!«
»So wie es geschrieben steht: >Man wird sie hinstreuen vor die Sonne, den Mond und das ganze Himmelsheer.< Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!« Gracia berührte schon ihre Stirn - da erkannte sie die Worte. Ihr Großvater hatte sie gesprochen, auf der Placa do Rossio, im Angesicht seines Todes. Ohne das Kreuzzeichen zu schlagen, ließ sie ihre Hand wieder sinken.
»>Sie sollen weder aufgesammelt noch begraben werden. Dünger auf dem Acker sollen sie sein.< Im
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