Die Gottessucherin
hunderttausend Sommersprossen. Ach, könnte ich Dich jetzt nur in den Armen halten und es wirklich tun ...«
Reyna runzelte verärgert die Stirn. Wie konnte José es wagen, ihr solche Dinge zu schreiben? Außerdem: Wurde es nicht langsam Zeit, dass er »Ihr« zu ihr sagte? Schließlich war sie kein Kind mehr, sondern eine Frau im heiratsfähigen Alter! Obwohl sie es gar nicht wollte, stellte sie sich vor, wie es wohl sein würde, wenn er ihre Sommersprossen küsste. Würden ihr dann dieselben Schauer den Rücken hinunterrieseln wie jetzt? Plötzlich hörte sie eine Stimme.
»Was für ein reizendes Stillleben! Man träumt, man sinniert, man erkundet seine Seele.«
Erschrocken schaute sie von ihrem Brief auf. Vor ihr stand ein fremder, dunkelhaariger Mann in einem goldenen Anzug und strich sich über den Spitzbart. Er war so hübsch, als wäre er in Öl gemalt.
»Nein, bitte nicht bewegen!«, rief er. »Wer seid Ihr?«
»Oh, ich vergaß, mich vorzustellen.« Er beugte sich über ihre Hand und hauchte einen Kuss auf ihre Finger. »Aragon ist mein Name. Ich hatte gehofft, Dom Diogo hier zu finden. Wir sind verabredet.«
»Dann seid Ihr hier falsch. Soweit ich weiß, ist mein Onkel im Kontor.«
»Dom Diogo ist Euer Onkel? Oh, dann müsst Ihr die Tochter von Francisco Mendes sein. Was für eine glückliche Fügung. Ich habe Euren Vater gekannt.« »Ihr - meinen Vater? Woher?«
»Aus Lissabon, wir hatten oft miteinander zu tun. Ich schmeichle mir sogar, sein Freund gewesen zu sein.« Aragon machte einen Schritt zurück, um sie mit ausgebreiteten Armen und schräg geneigtem Kopf zu betrachten. »Nein, die Verwandtschaft ist nicht zu leugnen. Die hellen Augen, die prächtigen Locken, der ganze Adel der Erscheinung. Selten habe ich solche Schönheit gesehen. Meine Augen schmerzen, so sehr bin ich geblendet.« Reyna wusste nicht, wie ihr geschah. So hatte noch kein Mann je zu ihr gesprochen. Der Fremde redete mit ihr nicht wie mit einem Mädchen, sondern wie mit einer erwachsenen Frau, machte Scherze und überschüttete sie mit Komplimenten. Sie war geschmeichelt, verwirrt, entzückt, musste lachen und erröten zugleich. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, da war sie bis in die Haarspitzen verliebt.
»Hat man Euch schon bei Hofe vorgestellt?«, erkundigte er sich. »Ihr meint - beim Kaiser?« »Ja natürlich, wo denn sonst?«
»Nein, natürlich nicht. Ich ... ich habe den Kaiser nur einmal gesehen, vom Fenster aus, als er Ostern in Antwerpen war und die Prozession anführte. Er saß auf einem Schimmel und winkte mit seinem Hut dem Volk zu.«
»Dann wird es aber höchste Zeit, dass wir das ändern. Der Kaiser wird begeistert sein, Euch zu empfangen. Und auch seine Schwester, die Regentin.«
»Glaubt Ihr wirklich?«, fragte Reyna unsicher. »Wie könnt Ihr nur daran zweifeln? Der ganze Hof wird Euch zu Füßen liegen. Ach, ich sehe es schon vor mir, wie Ihr zu Eurem ersten Ball erscheint. Alle Männer werden sich danach drängen, mit Euch zu tanzen - Grafen, Herzöge, sogar der Kaiser. Was meint Ihr, würde Euch das gefallen?«
»Ich ... ich glaube, ich würde vor Aufregung sterben. Ich weiß ja nicht mal, wie man einen Hofknicks macht.«
»Wie kann das sein? Dann müsst Ihr es auf der Stelle lernen!«
Er reichte ihr seine Hand. Aber noch während Reyna sich erhob, ging die Tür auf, und ihre Mutter stand im Raum. Sie schaute Aragon an wie einen bösen Geist.
»Was macht Ihr da?«
Aragon schien verlegen, doch nur für einen Moment. »Dona Gracia«, rief er und strahlte, »was für eine Freude, Eure Bekanntschaft zu machen. Bisher war mir das Vergnügen ...« »Ich weiß nur zu gut, wer Ihr seid, Senhor Aragon«, fiel sie ihm ins Wort, »und die Freude wäre ganz meinerseits, wenn Ihr nur die Hand meiner Tochter loslassen würdet.« Sie packte Reyna am Arm und zog sie fort. »Verabschiede dich von dem Herrn, mein Kind, wir haben keine Zeit.«
10
»Selig sind eure Augen, dass sie sehen, spricht der Herr zu seinen Jüngern, und selig eure Ohren, dass sie hören.« Obwohl Amatus Lusitanus an die Gottessohnschaft Jesu Christi so wenig glaubte wie an die Jungfräulichkeit seiner Mutter, zitierte er, wenn er an der Universität Löwen Vorlesung hielt, so oft wie möglich das Neue Testament, um seine Lehren in ein unverfänglich christliches Gewand zu kleiden. Diese List war zu seiner Sicherheit durchaus nötig, denn einige seiner flämischen Kollegen, die ihn mit gottgefälligem Misstrauen im
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