Die Gottessucherin
drehte sich um.
»Wenn Ihr mir einen ärztlichen Rat erlaubt, Dona Gracia - Ihr solltet mehr Fleisch essen.«
»Warum? Ich fühle mich ganz wohl.«
»Mag sein. Aber Ihr könntet Euch noch viel wohler fühlen. Wenn mich nicht alles trügt, leidet Ihr an Blutarmut. Und nicht nur daran. Ich habe die Symptome in einem meiner Bücher beschrieben. Man nennt es die Nonnenkrankheit.« »Nonnenkrankheit?«, erwiderte Gracia irritiert. »Ich habe den Namen nie gehört. Was hat es damit auf sich?« Statt einer Antwort errötete der Arzt in einer Weise, die ganz und gar nicht zu seiner würdigen Erscheinung passte. Doch bevor Gracia etwas sagen konnte, machte er kehrt und war verschwunden.
»Wenn du mich fragst - der hat sich nicht nur die Hand verbrannt«, sagte Brianda. »Dich fragt aber keiner«, entgegnete Gracia. »Und du?«, erwiderte ihre Schwester, als hätte sie nichts gesagt. »Gefällt er dir auch?« »Unsinn, wie kommst du darauf?«
Noch während sie sprach, spürte Gracia, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Aber sosehr sie sich darüber ärgerte, sie konnte nichts dagegen tun.
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich beneide«, sagte Brianda, und während sie ihr Kind an die Brust drückte, kehrte die Bitterkeit, die sie für ein paar Minuten überwunden hatte, wieder in ihre Miene zurück.
»Du sollst keinen Unsinn reden!«, wiederholte Gracia und schüttelte den Kopf. »Außerdem muss ich mich endlich um Reyna kümmern. Sie wartet schon auf mich.«
9
Tatsächlich wurde Reyna die Zeit allmählich lang. Die Turmuhr der Liebfrauenkirche hatte schon zweimal zur vollen Stunde geschlagen, und sie saß immer noch im Bilderkabinett ihrer Tante, kaute an einem Gänsekiel und blickte abwechselnd hinaus auf den Marktplatz oder in eines der vielen Gesichter Briandas, die von mehreren Dutzend Ölporträts an den Wänden auf sie herablächelte. Was sollte sie José schreiben? Jeden Satz, den sie anfing, strich sie aus, bevor sie bis zum ersten Komma kam. Es war nicht ihr eigener Wunsch, es war der Wunsch ihrer Mutter, dass sie Briefkontakt mit José hielt. Vor einigen Monaten hatte sie ihre erste Blutung gehabt, und am selben Tag hatte ihre Mutter erklärt, dass sie ihn heiraten werde. Aber - wollte sie das überhaupt? José war ihr Cousin, sie kannte ihn, seit sie denken konnte, er hatte in ihrem Haus gelebt und war ihr so vertraut wie ein Bruder - er konnte mit seinen großen, abstehenden Ohren wackeln, und sein rechter Zeigefinger war verkümmert. Nein, sie konnte sich unmöglich vorstellen, sich je in ihn zu verlieben. Und dabei gab es so viele interessante Männer in Antwerpen -richtige Männer, erwachsene Männer ...
Mit einem Seufzer überflog Reyna noch einmal Joses Brief. Es war schon der dritte in nur einer Woche, und wie immer hatte ihre Mutter darauf bestanden, dass sie ihn gleich beantwortete. Aber sosehr sie sich auch das Gehirn zermarterte, es fiel ihr einfach nichts mehr ein. All die Dinge, von denen José voller Begeisterung berichtete, interessierten sie nicht im Geringsten. Es war immer dasselbe langweilige Zeug. Von den anderen Studenten, die Flämisch und Französisch durcheinander sprachen, von seinem Bart, den er sich wachsen ließ, von seinen nächtlichen Trinkgelagen und Streifzügen durch Löwen. Es war, als würden seine Briefe nach Sauerkraut und Bier riechen. Neu war lediglich die Nachricht, dass er durch die heimliche Vermittlung von Onkel Diogo in das kaiserliche Heer eingetreten war. Obwohl er gleich zeitig weiterstudierte, war er sogar schon zum Hauptmann der Kavallerie befördert worden, in demselben Regiment, in dem auch ein gewisser Maximilian diente, ein Neffe der Regentin Maria, der mit José zusammen Fechtunterricht bekam und vielleicht eines Tages selbst auf den Kaiserthron gelangen würde.
»Dass ich Soldat geworden bin, darfst Du aber nicht Deiner Mutter verraten«, schrieb José, »das würde ihr gar nicht gefallen, und vielleicht überlegt sie es sich dann anders und sucht einen neuen Mann für Dich. Was für ein schrecklicher Gedanke! Meine Feder sträubt sich, ihn auch nur aufzuschreiben, so sehr liebe ich Dich. Reyna, mein Täubchen, ich kann Dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, dass es Dich gibt. Manchmal, wenn die Professoren ihre Paragraphen herunterleiern oder ich mit meinen Soldaten exerziere, sehe ich im Geist Dein Gesicht, und dann stelle ich mir vor, wie ich Deine leuchtend blauen Augen küsse und jede einzelne von Deinen
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