Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
er in die Gesichter der Rabenbunder schaute, die sich am Ufer aufgestellt hatten, entdeckte er in
ihren Augen dort die größte Sehnsucht. Der grausam beißende Wind oder die Gefahren zwischen den sich ständig
bewegenen und mahlenden Eisschollen schienen ihnen
überhaupt nicht zu Bewußtsein zu kommen. Diese Männer des Nordens erblickten dort nur die Heimat, die ihnen
so lange verwehrt worden war. Einen Ort der Herausforderung und der Kameradschaft, des Mutes und der Zusammenarbeit.
Der Krieger zog Aschure enger an sich heran.
Ho’Demi konnte vorbringen, was er wollte, es würde ihm
nicht gelingen, sie dazu zu überreden, sich auf das trügerische Packeis zu begeben.
»Dazu besteht auch kein Anlaß«, bemerkte der Häuptling leise an seiner Seite. Ein Rabenbunder brachte ihm
gerade eine längliche, an einem Ende spitz zulaufende
Muschel. Außen war sie elfenbeinweiß, innen aber orangefarben mit einem blauen Muster. Als Ho’Demi sie an
die Lippen setzte, entlockte er ihr ein tiefes, durchdringendes Heulen. Aschure hielt sich die Ohren zu, und
Axis sagte sich, daß dieses Geräusch noch in den tiefsten
Tiefen des Eises zu vernehmen sein mußte.
»Und was nun?« fragte er, als der Häuptling das Muschelhorn wieder absetzte.
»Nun warten wir.«
Während sie also am Ufer warteten, erzählte Ho’Demi
ihnen vom Packeis. »Es erstreckt sich entlang den westlichen Gestaden des Iskruel Ozeans und weist an einigen
Stellen eine Breite von fünf Meilen, an anderen bis zu
fünfundzwanzig Meilen auf. Auf dem Packeis jagen wir
die Robben, und von seinem Rand aus auch den Wal.
Auch haben wir gelernt, sein Seufzen und Beben zu deuten, um nicht in seinen Schlund zu stürzen und von seinen eisigen Reißzähnen zermalmt zu werden. Aber selbst
wir …« Er schwieg einen Augenblick, in dem er das Eis
zu betrachten schien, » … verlieren hin und wieder ein
unachtsames Kind.«
Sie nahmen sogar ihren Nachwuchs mit nach draußen?
Aschure schüttelte sich.
»Ich habe damals den Stämmen hier im Norden die
Nachricht gesandt, sich vor den Skrälingen im Packeis zu
verstecken«, erklärte der Häuptling jetzt. »Sie sollten
sich in ihre Kajaks setzen und so rasch wie möglich hinüberpaddeln. Denn den Geistern ist es unmöglich, ihnen
über das offene Wasser zwischen dem Ufer und dem Eis
zu folgen. Ich glaubte, dort sei mein Volk am besten aufgehoben, kennt es doch das Eis und liebt es. Aber allem
Anschein nach …«
Er sprach nicht weiter, und Sa’Kuja, die neben ihm am
Feuer saß, nahm seine Hand, als er fortfuhr: »Woher hätte ich wissen sollen, daß wir so lange fortbleiben würden? Über drei Jahre lang mußten die Rabenbunder hier
auf dem Eis um ihr Überleben kämpfen. Allesamt beherzte und wetterfeste Männer und Frauen, aber ich bezweifle, daß selbst sie es dort so lange aushalten könnten,
ohne sich an Land davon erholen zu dürfen …«
Also warteten sie weiter. Drei Tage vergingen, in denen Ho’Demi zunehmend gereizter wurde. Axis und
Aschure fingen schon an, sich Sorgen darum zu machen,
hier zu lange festzusitzen. Bald müßten sie zum Krallenturm ziehen, und danach erwartete den Krieger ja auch
noch die Feuernacht im Hain des Erdbaums. Wie viele
Tage durften sie noch am Rand dieses Ozeans verweilen?
Am Morgen des vierten Tages riß ein Schrei den
Häuptling von seinem Lager. Strömte sein Volk endlich
über das Eis heran? Aber er bekam nur einen großen Eisbären zu sehen, der über die Schollen sprang und sich
ihnen rutschend und hüpfend näherte. In einem Moment
drohte ihn ein jäh sich öffnender Abgrund zu verschlingen, im nächsten entging er nur um Haaresbreite dem
Schicksal, von scharfen Eisspitzen aufgespießt zu werden.
Ho’Demi starrte hin, und dann fiel er mit allen Rabenbundern, die bei ihm waren, auf die Knie.
»Urbeth«, flüsterten die Männer.
Axis und Aschure stellten sich zu Ho’Demi, rieben
sich den Schlaf aus den Augen und betrachteten das Tier.
Die Bärin besaß die Schulterhöhe eines erwachsenen
Mannes und war ungefähr halb so lang wie ein Streitroß.
Schwarze Krallen von zweifacher Fingerlänge wuchsen
aus ihren Tatzen, und ihre Zähne, die jedesmal aufblitzten, wenn sie ausatmete, wirkten beinahe so gefährlich
wie die eines Skrälings. Ein besonders dichtes Fell, im
Alter gelblich geworden, bedeckte ihren mächtigen Leib,
und als der Krieger genauer hinschaute, entdeckte er, daß
die Bärin ein Ohr verloren hatte.
»Aschure«, wandte er sich an seine Gemahlin,
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