Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
elfenbeinfarbenen Pelzberg.
»Wer ist sie?« fragte Axis schließlich den Häuptling.
»Urbeth«, antwortete dieser wortkarg.
»Und was stellt sie dar?«
Sa’Kuja antwortete für ihren Gemahl: »Urbeth ist
weitaus mehr als eine gewöhnliche Eisbärin, aber was
genau, wissen wir auch nicht. Seit die Rabenbunder hier
leben, geht Urbeth auf dem Packeis auf die Jagd. Hin und
wieder gesellt sie sich auf einen Schwatz zu uns. Wir
fürchten sie und verehren sie deshalb. Denn uns treibt die
Sorge um, daß Urbeth statt der Robben uns jagt, wenn
wir sie nicht mehr verehren.«
»Das glaube ich eigentlich nicht, Sa’Kuja«, entgegnete
Aschure. »Meiner Ansicht nach spricht Urbeth mit Euch,
weil sie Euch mag. Wenn mich nicht alles täuscht«, sie
warf einen vorsichtigen Blick auf den schlafenden Bären,
»fühlt Urbeth sich manchmal einfach nur einsam und
sucht dann Gesellschaft und ein Gespräch. Also macht
sie sich auf den Weg zu den Rabenbundern und plaudert
mit ihnen. Vielleicht würde es ihr viel besser gefallen,
wenn Ihr sie wie eine von Euch behandeln würdet, und
nicht wie eine Göttin.«
Die Bärin rülpste vernehmlich im Schlaf, und Axis
lachte laut, als er die erschrockenen Gesichter des Häuptlings und seiner Gemahlin sah. »Ich glaube, meine
Freundin, Ihr solltet in dieser Frage auf Aschure hören.
Und ich möchte sogar wetten, daß dieser Eisbär Euch
während der vielen Monate auf dem Eis die langen
Abende mit vielen Geschichten verkürzen kann.«
Ho’Demi setzte seinen Teebecher ab. »Wenn Urbeth
uns wirklich zu meinem Volk führt, Sternenmann, werde
ich sie zur Namensgebung meines nächsten Enkelkindes
einladen. Sie soll seine Patin sein.«
Aschure legte ihm eine Hand aufs Knie. »Ich glaube,
daß würde dieser alten Dame sehr, sehr gut gefallen.«
Urbeth erwachte mit dem Sonnenaufgang. Sie erhob sich,
streckte sich, weckte mit ihrem Grunzen das ganze Lager
und trottete dann auf den Wald zu.
»Sagt Euren Männern, Ho’Demi«, rief sie über die
Schulter, »daß es zu Fuß weitergeht. Warum die Pferde
belasten?«
Der Häuptling murmelte etwas wenig Freundliches,
während er sich den Umhang überwarf. Schwarze Ringe
zeigten sich unter seinen Augen, weil er in der vergangenen Nacht zu wenig Schlaf gefunden hatte. Überall erhoben sich nun auch die Rabenbunder und machten sich
daran, Urbeth zu folgen. Die Glöckchen, die sie sich in
Haar geflochten hatten, bimmelten leise in die Morgenluft.
Aschure wickelte Caelum in eine Decke, trug ihn auf
dem Arm, gab ihm ein Stück Brot, damit er beschäftigt
war und schloß sich dann mit Axis dem Zug an.
Sie brauchten eine Stunde, um den Totholzwald zu erreichen. Kaum waren sie dort angelangt, erhob sich auch
schon aufgeregtes Gemurmel aus den Reihen der Rabenbunder.
»Was stimmt denn nicht?« wollte die Jägerin wissen.
»Die Bäume leben«, antwortete Sa’Kuja.
Aschure fragte sich, warum lebende Bäume die Leute
so sehr in Aufregung versetzten. Der Wald, der sich, so
weit das Auge reichte, nach Süden erstreckte, setzte sich
aus ganz gewöhnlichen Nadelhölzern zusammen. Allerdings machte die Zauberin zwischen den Bäumen auch
einige schwarze Stämme aus – diese Gewächse mußten
tot sein. Die Kiefern und Tannen wirkten außerdem etwas kleiner als gewöhnlich, aber auch das konnte wenig
überraschen, weil Bäume in diesem rauhen Klima selten
sehr groß wurden. Einzig überraschen konnte daher nur
der Umstand, daß sich hier überhaupt ein so großer Wald
entwickelt hatte.
»Oh«, machte Aschure, als ihr das tatsächlich immer
merkwürdiger erschien. Die Häuptlingsgemahlin sah sie
an und sagte: »Richtig beobachtet, Zauberin. Wir nennen
dieses Gebiet hier Totholzwald. So lange die Rabenbunder zurückdenken können, haben hier immer nur tote
Bäume gestanden. Ein ganzer Wald, eingefroren am
Rand der polaren Eiskappe. Und so dicht und weit haben
wir ihn auch noch nie gesehen.«
»Oh«, sagte die Jägerin noch einmal, aber diesmal als
Zeichen dafür, begriffen zu haben.
Urbeth hockte sich zwanzig Schritte vor dem Waldrand auf den Boden und wartete mit gelangweilter Miene, bis die ganze Schar heran war. Dann räusperte sie
sich, was wie ein Bellen klang, und begann.
»Euer Volk, Ho’Demi, hat fast achtzehn Monate lang
auf dem Packeis verbracht. Aber das Leben dort kam sie
hart an. Viele starben; denn unter den Rabenbundern
wuchs die Gewißheit, das Ende der Welt sei nahe. Sie
wollten nichts mehr essen noch trinken und
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