Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
Krallenturm aufhielten,
berichteten später, ein helles Licht habe alle Gänge,
Kammern und Hallen erfaßt und durchdrungen.
Und so wurde aus dem Krallenturm Sternenfinger, und
dieser ward ein wahrlich von den Göttern gesegneter Ort.
Als der Tränenschleier vor Sternenströmers Augen wieder fast verschwunden war, stellte er verwundert fest, daß
die Sternengötter immer noch am Schacht standen und
sich an den Händen hielten. Auch die Lichtkränze auf
ihren Häuptern erstrahlten weiterhin.
Aber als der Zauberer einige Male blinzelte, waren sie
verschwunden. Nur Axis und Aschure standen neben ihm.
»Ich hatte ja keine Ahnung«, flüsterte er rauh. »Aber
eigentlich hätte ich es mir denken können.«
Sie saßen auf dem Felsvorsprung des Berges, unter ihnen
die Klippen und vor ihnen der Gletscher und die Eisbärküste. Auf einer fernen Scholle tollte ein Eisbär herum.
Ein Ohr fehlte ihm.
»Könnt Ihr Euch noch daran erinnern«, sagte die Zauberin, »was ich beim letzten Mal gefragt habe, als wir
hier saßen?«
Der Wind spielte mit ihrem losen Haar, und Axis
wischte ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht. »Ja, das
kann ich. Ihr fragtet, ob es mir etwas ausmache, so lange
zu leben.«
»Ja, antwortetet Ihr, das bekümmere Euch schon; denn
in fünfhundert Jahren würdet Ihr vielleicht wieder hier
sitzen und Euch nicht an den Namen der schönen jungen
Frau erinnern können, die neben Euch saß, deren Gebeine aber in einem halben Jahrtausend zu Staub zerfallen
wären.«
Danach schwiegen sie wieder gemeinsam, und der
Krieger betrachtete die wunderbare Aussicht.
»Und jetzt …« fragte er und verschränkte seine Finger
mit den ihren.
»Nun stehen wir vor einer viel längeren und fremdartigeren Zukunft, aber wenigstens werden wir sie gemeinsam erleben.«
Axis lächelte und fing mit seiner freien Hand etwas
aus der Luft. Eine Mondwildblume, die er ihr ins Haar
steckte. »Ich verspreche, daß ich zu Euch zurückkehren
werde.«
Ihre Finger schlossen sich fast schmerzhaft um die
seinen. »Ja, kehrt zurück. Das müßt Ihr.«
Er küßte sie und wechselte das Thema: »Wann werdet
Ihr aufbrechen?«
»Heute nachmittag, Liebster. Ich nehme Caelum und
die Alaunt mit, und dann reiten wir über die Alpenpässe
bis zur Eisdach-Ödnis. Von dort geht es dann geradewegs nach Sigholt.«
»Reitet mit dem Mond, mein Herz.«
Sie nickte und lächelte. »Und wann brecht Ihr auf?«
Er lachte. »Arne und ich? Der Getreue begegnet mir
noch immer nicht mit mehr Achtung, obwohl ihm doch
bestimmt längst die Gerüchte zu Ohren gekommen sein
müßten, die sich inzwischen in Windeseile durch den
ganzen Berg verbreitet haben. Arne erklärte mir nur in
seiner gewohnt kargen Art, daß er mir so lange dienen
wolle, wie ich ihn brauche. Und wenn er das so sagt,
dann wird es wohl auch so kommen. Nur noch wenige
Tage trennen uns von der Feuernacht. Ich glaube, ich
werde Freund Arne ein wenig erschrecken, indem ich ihn
mit in die Tiefe nehme, damit wir uns von Fährmann Orr
fahren lassen.«
Sie lehnte sich eng an ihn. »Vielleicht findet Arne ja
Gefallen daran, mit dem Charoniten über die Mysterien
der Sterne zu debattieren. Wann soll es denn losgehen?«
»Sobald wir diesen Felsvorsprung hier verlassen haben. Es gibt keinen Grund, noch länger zu säumen.«
Tränen traten ihr in die Augen. »Kehrt heim zu mir,
Liebster.«
Seine Hand umschloß die ihre. »Werdet Ihr Rivkah
rechtzeitig erreichen?«
»Ich glaube schon. Aber Eure Mutter wird sicher etwas ärgerlich darüber sein, daß ich soviel Zeit vertrödelt
habe … Axis?«
»Ja?«
»Was möchtet Ihr, daß ich nach der Geburt tue oder
lasse?«
Schrecken durchfuhr den Krieger; denn er wußte genau, was Aschure damit meinte. Rivkah hatte die Jägerin
gebeten, ihr bei der Geburt als Hebamme Unterstützung
zu leisten. Eine Frau, die sich mit solcher Arbeit auskannte, vermochte leicht, das Kind so zu töten, daß es
wie eine Totgeburt aussah. Selbst die Mutter würde es
niemals bemerken.
»Ach, Liebste, Rivkah vertraut Euch vollkommen.
Wollt Ihr sie meinetwegen täuschen? Nein, niemals!« Er
wandte den Blick ab. »Antwortet mir bitte nicht darauf,
Aschure.«
Erst nachdem Axis tief durchgeatmet hatte, konnte er
sich wieder zu ihr umdrehen. »Meine Mutter vertraut
Euch wirklich, Aschure. Ich möchte nicht, daß Ihr dieses
Vertrauen in meinem Namen mißbraucht.«
Wieder saßen sie schweigend zusammen, bis die Jägerin mit den Fingerspitzen sein Gesicht berührte.
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