Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
wirklich kein Anlaß, Barsarbe.«
»Doch, denn uns bleibt keine andere Möglichkeit«,
entgegnete sie. »Ich sehe die Wahrheit und den Weg, den
wir beschreiten müssen, deutlich vor mir. Aber ich erkenne auch, daß einige wenige unter uns darüber murren.
Und die Entscheidung über unsere Zukunft erscheint mir
so überaus wichtig, daß wir sie nur einstimmig fällen
dürfen. Die Wahrheitsprobe muß daher auch die letzten
Zweifler überzeugen.«
»Und uns Awaren ein weiteres Leben kosten«, murmelte Grindel und umfing Schra fester. Er hatte bereits
damals beim Angriff der Skrälinge zu Tultide ihre Mutter
verloren, da wollte er das Leben seiner Tochter nicht
auch noch aufs Spiel setzen.
»Fürchtet Ihr etwa, daß es Eure Kleine treffen wird?«
entgegnete die Magierin giftig.
»Ich bin bereit«, erklärte Schra.
»Dann stimme ich der Probe zu«, sprach einer der älteren Magier. Und der neben ihm nickte. »Ich auch.«
»Ich ebenfalls.«
»Ich bin einverstanden.«
Und so stimmten bald alle Awaren, anfangs zögernd,
dann immer offener der Wahrheitsprobe zu.
Als auch der letzte sein Einverständnis gegeben hatte,
lächelte Barsarbe das Mädchen kalt an: »Dann laßt uns
beginnen.«
Man begleitete die beiden vor den Erdbaum. Hier entledigten sich Barsarbe und das Mädchen ihrer Kleider, und
die Magier banden sie nackt an den Stamm. Dann wurden sie, eingehüllt in die Macht des Erdbaums und unter
den wachsamen Augen der Zauberer der Probe überantwortet.
Der Wald lag ruhig und friedlich da und ähnelte so gar
nicht dem unheimlichen Ort, in dem beide im Alter von
zwei Jahren ihre Probe bestehen mußten. Damals waren
die Bäume ihnen bedrohlich näher gerückt, hatten sie an
einer Flucht gehindert, einer Flucht vor der schrecklichen
Bedrohung, die sie durch den Wald jagte.
Unbewegt und schwer von Schwüle war die Luft.
Schlaff hingen die Blätter herab, und jeder Schritt wirkte
wie ein Verstoß gegen die Trägheit des Waldes.
Schra und Barsarbe bewegten sich im Abstand von
vierzig Schritten voneinander. Hin und wieder warf die
eine der anderen einen Blick zu, um dann rasch wieder
woanders hinzuschauen. Beide wünschten sich, sie hätten
ihre Kleider anbehalten; doch nicht aus einem Gefühl der
Scham heraus, sondern weil sie dann etwas gehabt hätten, um sich ihre feuchten Hände abwischen können.
Keine von ihnen sagte etwas.
Beide wußten auch nicht, wie lange und wohin sie unterwegs waren. Doch als sie plötzlich den Nebel sahen,
der zwischen den Bäumen herantrieb, schauten sie sich
ein letztes Mal an; war ihnen doch bewußt, daß sie sich
niemals wiedersehen würden.
Von nun an gab es keinen Weg mehr zurück.
Der Nebel verdichtete sich und drängte gegen sie, daß
sie nichts mehr erkennen konnten. Blind stießen sie gegen Bäume, obwohl sie sich in acht nahmen. Borke und
Steine rissen ihnen die Haut auf und zerrten an ihrem
Haar. Binnen kurzem hatten beide ein Dutzend kleinerer
Wunden erlitten, die mehr brannten als wirklich schmerzten und die ihnen weniger Angst machten, als vielmehr
Sorge.
Der Nebel war jetzt so dick, daß er alle Geräusche erstickte.
Sie hielt längst nicht mehr die Hände vor sich ausgestreckt, weil sie lieber die Arme um sich schlang. Beißende Kälte drang ihr bis in die Knochen, und sie wußte
nicht, wie lange sie noch laufen konnte. Das Haar hing
ihr schwer und tropfnaß auf den Schultern, und ihre Füßen spürte sie schon nicht mehr.
Wo wartete die Probe? Wann würde sie ihr unterzogen?
Sie wußte, daß sie recht hatte, mochte die andere auch
noch so sehr versucht haben, den Awaren den Sinn zu
verwirren. Ihr war auch klar, daß die falsche Entscheidung die Waldläufer zu einem langsamen und qualvollen
Tod verdammen würde.
Plötzlich war da ein Knacken neben ihr. War das die
andere?
Aber nein, eine weiße Gestalt löste sich aus dem Nebel, und sie schluchzte vor Dankbarkeit: »Ramu!«
Sie umschlang den Hals des weißen Hirsches, der an
ihrem Kopf und an ihren Schultern schnüffelte, und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten.
»So seid Ihr gekommen, Ramu, mich sicher zu geleiten?«
Aber der Hirsch gab ihr keine Antwort. Er trat einen
Schritt zurück, aber nicht so, als wolle er ihre Hand abschütteln, vielmehr sie zum Gehen auffordern.
Ramu führte sie auf diese Weise weiter, und so wanderten sie gemeinsam, bis sie sich vor Erschöpfung kaum
noch aufrecht halten konnte. Wie lange würde der Hirsch
brauchen, sie aus dem Nebel hinauszuführen? Und was
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