Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
stürzte sich statt
dessen auf die Magiern. Gleichermaßen entsetzt über den
Angriff des Häuptlings wie darüber, auf welche Weise
Barsarbe das kleine Mädchen behandelte, trat Brode zwischen die beiden. Zwar gelang es ihm, den Mann fortzustoßen, aber die Magierin hielt Schra immer noch fest.
Barsarbe lächelte befriedigt, als sie sah, wie der Älteste
sie von Grindel befreite.
»Die Awaren befinden sich in einem erbärmlichen Zustand!« rief die Magierin jetzt, und die Waldläufer saßen
schweigend und entsetzt da. »Wir sind bereits von dem
Gift angesteckt, das Aschure mit ihrer Gewalt in unseren
Wald getragen hat. Da mag es wenig überraschen, daß
Grindel und Schra, die am meisten mit dieser verderbten
Frau zu tun hatten, sich hier nun zu Verfechtern ihrer
Sache machen.«
»Ich sage Euch, worum es in Wahrheit geht!« rief
Schra und kämpfte tapfer gegen ihren Tränen an. »Es
geht Euch nur um Aschure. Ihr haßt sie so sehr, daß Ihr
sogar bereit seid, unser Volk in tiefste Verzweiflung zu
führen, nur um Euch an ihr zu rächen!«
»Ich habe nichts anderes im Sinn, als mein Volk zu retten!« schrie Barsarbe. »Mein Volk, erkennt Ihr denn nicht,
wie recht ich habe? Begreift Ihr denn nicht, daß unsere
besten Aussichten darin liegen, all dem Übel jenseits des
Waldes den Rücken zuzukehren? Hier befinden wir uns in
Sicherheit; denn der Zerstörer vermag uns hier nicht zu
erreichen. Warum sollten wir daran etwas ändern sollen?
Uns steht nämlich durchaus das Recht zu, nein zu sagen,
wenn der Sternenmann mit seiner Bitte vor uns tritt!«
Viele Awaren ließen sich von ihr überzeugen. Die
Welt jenseits des Waldes barg zu viele Gefahren. Warum
sich einem solchen Wagnis aussetzen? Doch andere
Waldläufer zögerten, der obersten Magierin zu folgen.
»Es war eine unserer Frauen, die Gorgrael zur Welt
brachte!« donnerte Grindel jetzt in die Versammlung.
»Fühlt denn keiner von Euch die Verantwortung, die
seitdem auf uns lastet? Sollten wir nicht mithelfen, das
Übel zu beseitigen, das durch uns entstanden ist?«
Barsarbe ging nicht auf ihn ein. Sie warf vielmehr unruhige Blicke auf die Menge vor sich. Für wen würden
die Awaren sich entscheiden?
»Wenn wir Axis unsere Hilfe verweigern«, sprach
Schra, und ihre Worte erreichten auch die Ohren derjenigen in den letzten Reihen, »kann er den Zerstörer nicht
bezwingen. Und wenn der Sternenmann unterliegt, bricht
rings um uns herum die ganze Welt zusammen. Selbst
Awarinheim wird unter Gorgraels erbarmungslosen
Schlägen zugrunde gehen.«
»Lüge, alles Lüge!« schrie die Magierin. »In den Wäldern finden wir stets Sicherheit und Geborgenheit!«
»Vielleicht in dieser Generation und womöglich
auch noch in der nächsten!« rief das Mädchen. »Aber
nach seinem Sieg wird Gorgraels Macht ins Unermeßliche wachsen. Sollen wir unsere Nachkommen zum
langsamen Tod verurteilen, bloß weil es uns heute an
Einsicht oder Mut mangelt, gegen den Zerstörer aufzustehen?«
»Sollen die Bäume entscheiden!« verlangte Barsarbe
unvermittelt und gefährlich leise. »Die Bäume sollen uns
die Wahrheit künden.«
Dann ist der Sieg mein! frohlockte die Magierin. Damit habe ich gewonnen, denn die Bäume werden sich
niemals für Axis oder gar Aschure entscheiden. Sie ließ
das Mädchen los.
»Ihr wollt Euch der Wahrheitsprobe unterziehen?« rief
ein anderer Magier.
»O ja«, antwortete Barsarbe. »Ich will eine Probe.
Seid Ihr damit einverstanden?«
Alle Awarenkinder, bei denen man die Anlagen zum
Magiertum entdeckte, mußten sich schon im Kleinkindalter einer furchtbaren Probe unterwerfen, die vor allem
deswegen als schrecklich galt, weil viele Knaben oder
Mädchen sie nicht überlebten. Trotzdem setzten die
Waldläufer diese Tradition immer noch fort, weil sich
nur durch die Probe feststellen ließ, welches Kind wirklich dazu auserwählt war, einmal zu einem mächtigen
Magier heranzuwachsen.
Aber Barsarbe schlug hier etwas weitaus Schlimmeres
vor. Die Wahrheitsprobe war bei den Awaren nur selten
durchgeführt worden, und seit drei- oder vierhundert Jahren überhaupt nicht mehr.
»Wir stehen an einer Wegscheide«, erklärte die alte
Magierin. »Möge die Probe uns klarmachen, welchen
Pfad wir fürderhin zu beschreiten haben.«
»Nein!« schrie Grindel und zog seine Tochter rasch an
sich. Diesmal stellte Brode sich ihm nicht in den Weg.
»Nein!« rief er dann noch einmal, als er vor Schra
kniete und sie mit beiden Armen umschlang. »Dazu besteht
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