Die Gottin des Sternentanzes - Unter dem Weltenbaum 06
vorne.
»Sie ist tot«, verkündete die Baumfreundin und schritt
dann um den mächtigen Stamm herum zu Schra.
Das Mädchen bewegte sich, als Faraday sich neben sie
kniete, und die Seile, die sie gebunden hatten, fielen wie
von selbst von ihr ab. Die Edle lächelte und schloß die
Kleine in ihre Arme. »Die traurigste Wahl von allen«,
flüsterte sie.
Beschämt standen die Awaren vor der Baumfreundin.
»Wir gewähren Axis jede Unterstützung«, versprach
ein Magier, »die er von uns erwartet.«
»Und noch mehr dazu«, erklärte Grindel, woraufhin
Faraday ihm ein Lächeln schenkte.
»Ihr seid zu Schras Verteidigung aufgetreten, Häuptling«, sprach die Edle, »und dafür danken wir Euch beide, der Wald und auch ich.«
Damit wandte sie sich wieder an die Waldläufer, die
sich hier versammelt hatten. »Schra wird Euch aus den
Nebeln in eine neue Zukunft führen. Beachtet ihre Worte,
und versagt ihr nicht Eure Verehrung.«
»Werdet Ihr uns denn nicht führen, Baumfreundin?«
fragte Merse, eine der Magierinnen, die Faraday am
Farnbruchsee begegnet und von dort mit ihr bis nach
Smyrdon gezogen waren.
»Ich werde Euch den Weg zeigen, Merse, aber ich will
Euch nicht führen.«
»Aber hat uns denn nicht die Prophezeiung verheißen,
daß Ihr …« begann ein anderer Aware, aber die Edle
brachte ihn mit einem Lächeln zum Schweigen.
»Sagen und Weissagungen haben es mitunter an sich,
nicht sehr klar und eindeutig zu sein. Damit sind unterschiedlichen Auslegungen Tür und Tor geöffnet. Und wir
alle sind nicht davor gefeit, vom Gang der Ereignisse aus
der Bahn geworfen und in eine neue Richtung geschickt
zu werden. Ich bin dafür verantwortlich, den Awaren den
Weg zu weisen, und das werde ich auch tun.«
28 D IE
M
ÄCHTE DER
F
EUERNACHT
Er schritt geräuschlos durch den Wald und erinnerte sich an
den Weg, als läge sein letzter Besuch nur ein paar Wochen
und nicht Jahre zurück. Arne folgte ihm lautlos wie ein
Schatten und wirkte jetzt, da er mehrere Stunden mit dem
Fährmann in dessen zauberischem Kahn verbracht hatte,
noch verschlossener als zuvor. Hier fühlte er sich angespannt und unsicher: Arne gefiel die Dunkelheit nicht, die
hinter den Stämmen lauerte, und ihm behagte genauso wenig die unsichtbare Macht, die sich irgendwo vor ihnen
befand. Axis hatte ihm befohlen, den Dolch wegzustecken,
aber einmal weggesteckt, bedeutete auch außer Reichweite,
und das ließ den Getreuen erst recht unruhig werden. Beide
Männer hatten ihre eigentlichen Waffen in einer trockenen
Höhle am Ufer des Nordra zurückgelassen.
Der Krieger trug sein goldenes Langhemd, und die
blutrote Sonne prangte auf seiner Brust. Zusammen mit
einer ebenso prächtigen Hose und dem roten Umhang bot
er einen solch herrlichen Anblick, daß er damit jeden Hof
ins Staunen versetze, ja sogar den spöttischsten Botschafter zum Schweigen brachte. Aber wie würden die Waldläufer einen solchen Aufzug finden? Und wie würde sich
Faraday verhalten, wenn sie ihn wiedersah?
Und was würde dann in ihm vorgehen?
Er trat hinter dem Steinkreis in den Erdbaumhain, bedeutete Arne, am Waldrand auf ihn zu warten, wandte
sich um und schritt hinein in ein unendliches Schweigen.
Der Erdbaum sang über den Köpfen, aber seltsamerweise vermochte sein Lied nicht das Schweigen zu übertönen, das wie ein Nebel über den Awaren lag, die sich
zwischen die runden Öffnungen im Steinkreis drängten.
Ob Mann, Frau oder Kind, alle starrten ihn an. Axis mußte sich zwingen, aufrecht den Außenkreis abzuschreiten.
Mochte der Krieger sich auch in dieser Umgebung etwas unsicher fühlen, so war ihm äußerlich nichts davon
anzumerken. In den Augen der Awaren, die ihn genau
beobachteten, sah er selbstbewußt und zuversichtlich aus,
wie er mit federnden Schritten daherkam und seine
Macht genauso selbstverständlich trug wie den roten
Umhang, der ihm von den Schultern wehte.
Die Waldläufer saßen im weiten Halbkreis, der den
Großteil der Lichtung einnahm, vor ihm. Axis war erst
einmal hier gewesen, zum Beltidenfest, und jene Nacht
hätte sich mit ihrer Musik, ihrer Fröhlichkeit und ihrer
Ausgelassenheit kaum mehr von der jetzigen unterscheiden können. Heute beherrschten Schweigen, Ruhe und
die Tausende Augenpaare das Halbrund, deren Blicke
ihm auf Schritt und Tritt folgten …
Als der Krieger die Mitte der freien Fläche vor dem
Amphitheater erreichte, verlangsamte er seine Schritte,
weil er nicht wußte, was nun von ihm erwartet wurde –
oder ob er
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