Die Grabstein-Clique
öffnete den Mund, darauf gefaßt, etwas Furchtbares zu erleben und dann blitzartig fliehen zu müssen.
Diesmal quoll kein Dampf über ihre Lippen. Dafür schaute sie in den Mund.
Und dort lag die Zunge.
Nicht mehr wie sonst, sie hatte sich verändert, sie war anders geworden. Länger und spitzer, sie schimmerte in einem dunklen Rot, als wäre ein langer Blutfaden erstarrt.
Das war keine menschliche Zunge mehr, das war die Zunge eines… eines – sie wagte den Gedanken kaum zu beenden – eines Reptils!
Dieses Ergebnis traf sie wie ein Schock. Sie holte scharf Luft, zog die Zunge wieder zurück. So schnell und hastig, wie es auch eine Schlange oder eine Eidechse tat, wenn sie ihre Beute mit der Zunge geschnappt hatte.
Clara taumelte zurück. Erst als sie mit dem Rücken gegen eine Toilettentür stieß, blieb sie stehen. In ihrem Hirn kreisten die Gedanken, sie war durcheinander, völlig von der Rolle, ihr eigener Anblick hatte sie wie ein Schock getroffen.
Der Teufel, dachte sie. Der Teufel hat seine Hände mit im Spiel. Er ist derjenige, der sich auf dich eingestellt hat. Du kannst ihm nicht mehr entkommen. Du gehörst jetzt ihm.
An den letzten Satz dachte sie intensiv, und sie wunderte sich gleichzeitig darüber, daß es ihr plötzlich nichts mehr ausmachte, so zu denken.
Sie hatte die Seiten gewechselt und mußte die Konsequenzen tragen, und das würde sie auch tun.
Böse Gedanken drängten sich in ihr hoch. Sie dachte nicht mehr an sich, sondern an die Person, die sie mitgenommen hatte. Eine nette, harmlose, junge Frau, die sie mit ihrem Auto schneller ans Ziel bringen konnte.
Genau das war es.
Aber sie konnte nicht fahren…
›Doch, du kannst fahren. Du kannst es. Jetzt kannst du alles. Du stehst unter meinem Schutz.‹
Da war die Stimme aus der Hölle wieder, und sie schaffte es auch, ihr Mut zu machen.
Clara Montero riß sich zusammen. Aus ihrer Kehle drang ein tiefes Brummen. Sie spürte den anderen Druck, der nicht von ihr stammte, sondern aus einer anderen Welt war, die sie nicht kannte, die hinter der sichtbaren verborgen lag, wo das Böse regierte, das ihr so gut gefiel. Plötzlich machte es ihr nichts mehr aus, daß sich ihre Zunge verändert hatte. Im Gegenteil, sie empfand es sogar als gut, denn sie ging davon aus, daß sie die Zunge als Waffe einsetzen konnte. Gegen die Menschen, auch gegen Laurie…
Das würde ein Spaß werden.
Und mit diesem Gedanken schlug sie wieder den Weg in das Lokal ein…
***
Laurie Warren schaute ihre Mitfahrerin erstaunt an. »Sie sind aber lange geblieben«, sagte sie. »Pardon, aber…«
Laurie ließ sie nicht ausreden. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Clara?«
»Wieso?«
»Nun ja, Sie sehen ziemlich schlecht aus. Ich will Ihnen keine Angst einjagen, aber Sie sehen blaß aus.« Lauries Blick war voller Sorge auf Clara gerichtet.
Clara senkte den Kopf. Jetzt mußt du dich zusammenreißen. Jetzt nur nicht durchdrehen, sich nichts anmerken lassen. »Sie haben recht, Laurie, es ging mir tatsächlich nicht so gut. Mir war übel, aber das lag nicht am Essen, sondern daran, daß es so viel gewesen ist, was ich nicht gewohnt bin. Wir schlagen uns im Kloster nicht die Bäuche voll, wenn ich das einmal so profan ausdrücken kann.« Dann lächelte sie.
»Aber geschmeckt hat es trotzdem.«
»Das freut mich. Möchten Sie einen Magenbitter, einen Schnaps, einen Weinbrand…«
»Nichts von dem. Danke.«
»Dann können wir fahren?«
»Gern.«
»Gut, ich habe bereits die Rechnung beglichen…«
»Ich habe mich nicht einmal bei Ihnen bedankt, Laurie.«
»Das ist doch egal.«
»Nein, ist es nicht. Ein herzliches Dankeschön, Laurie. Ich fand es sehr nett.«
Laurie Warren senkte verlegen den Blick. Sie räusperte sich, dann fragte sie: »Wie sieht es denn mit Ihrem Ziel aus, Clara. Wo kann ich Sie hinbringen?«
»Ich sage Ihnen schon Bescheid.«
»Gut.« Laurie lächelte und band wieder ihr Kopftuch um. »Dann lassen Sie uns fahren.«
Am Wagen überkam Clara wieder der Eindruck, als würde ihre Zunge noch wachsen.
Sie überlegte, was sie tun sollte und drehte dem Golf den Rücken zu, damit Laurie nicht ihr Gesicht beobachten konnte. Clara versuchte inzwischen, die Zunge aufzurollen. Sie mußte es irgendwie schaffen, sonst wurde der Druck zu groß, so daß es ihr nicht mehr möglich war, den Mund geschlossen zu halten.
Und sie wußte auch, daß sie sehr bald über Laurie herfallen würde, denn die Veränderung ließ sich bestimmt nicht stoppen, zudem
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