Die Graefin Charny
bitte Sie dringend darum, lieber Freund.«
»In zehn Minuten«, sagte Gilbert, »soll Ihr Wunsch erfüllt werden.«
Er verneigte sich und ging einen Schritt zurück.
Die Gräfin reichte ihm die Hand. »Oh, wie danke ich Ihnen, Gilbert!« sagte sie; »in einem Augenblick erweisen Sie mir mehr Gutes, als Sie mir in Ihrem ganzen Leben Schmerz verursacht haben!«
Gilbert entfernte sich. – Vor der Tür fand er Sebastian und Pitou, die ihn in einem Fiaker erwarteten.
»Sebastian,« sagte er, indem er ein kleines Fläschchen unter der Weste hervorzog, »gib der Gräfin von Charny dieses Fläschchen ... ich schicke es ihr.«
»Wie lange darf ich bei ihr bleiben, Vater?« fragte Sebastian.
»So lange wie du willst.«
Eine Viertelstunde nachher kam Sebastian zurück. – Gilbert sah ihn forschend an; er brachte das Fläschchen in demselben Zustande zurück, wie er es erhalten hatte.
»Was hat sie gesagt?« fragte Gilbert.
»Sie sagte: ,Oh, nicht aus deiner Hand, mein Kind!' Dabei weinte sie.«»Dann ist sie gerettet«, sagte Gilbert. »Komm, lieber Sebastian.«
Er küßte seinen Sohn zärtlich – vielleicht zärtlicher als je zuvor.
Gilbert hatte seine Rechnung ohne Marat gemacht.
Acht Tage später erfuhr er, daß die Gräfin von Charny verhaftet und in das Gefängnis der Abbaye gebracht worden sei.
48. Kapitel
Zwischen der Nationalversammlung und der Gemeindebehörde bestand ein tiefes Zerwürfnis. Die Nationalversammlung war im Grunde nur ein Werkzeug in der Hand dieses Gemeinderates gewesen.
Die Nationalversammlung hatte dem König eine Zuflucht geboten; der Gemeinderat hätte den unglücklichen Monarchen gern in den Tuilerien überfallen und samt der Königin und dem Dauphin zwischen zwei Türen erdrückt. Die Nationalversammlung vereitelte diesen Plan, dessen Gelingen, wie schändlich er war, vielleicht ein großes Glück gewesen wäre.
Die Nationalversammlung gab sich also durch den Schutz, den sie dem König, ja selbst dem Hofe gewährte, als royalistisch zu erkennen. Dieselbe Gesinnung zeigte sie durch den Beschluß, daß der König den Luxemburgpalast bewohnen solle.
Um zur Diktatur zu gelangen, mußte der revolutionäre Gemeinderat alle Absichten und Maßregeln der Nationalversammlung zu vereiteln suchen. Die letztere hatte dem König den Luxemburgpalast zur Wohnung bestimmt; der Gemeinderat erklärte, nicht für den König bürgen zu können, wenn Ludwig XVI. den Luxemburgpalast bewohnte.
Die Nationalversammlung wollte wegen einer so unbedeutenden Sache nicht mit dem Gemeinderat brechen; sie überließ ihm die Wahl der königlichen Residenz.
Der Gemeinderat wählte den Temple. Diese Wahl war seiner würdig. Denn der Temple war kein Palast – nein, ein Gefängnis, ein niedriger, düsterer Turm.
Am 13. August abends wurden der König, die Königin, Madame Elisabeth, die Prinzessin von Lamballe, Frau von Tourzel, Herr von Chamilly, Kammerdiener des Königs, und Herr Hue, Kammerdiener des Dauphin, in den Temple gebracht.
Ganz Paris schien voller Freude. Es waren freilich dreitausend Bürger gefallen, aber der König, der Fremdling, der Erzfeind der Revolution, der Verbündete des Adels und des Klerus – der König war ein Gefangener.
Als der König aus dem Wagen stieg, fand er Santerre, der zehn Schritte vom Kutschenschlage zu Pferde hielt.
Der König trat ein, und da er noch nicht wußte, welche Wohnung ihm angewiesen worden war, verlangte er die Gemächer des »Palastes« in Augenschein zu nehmen.
Die Munizipalbeamten sahen einander lächelnd an und führten ihn in allen Zimmern des Temple umher.
Um zehn Uhr war das Abendessen aufgetragen. – Während der Mahlzeit stand Manuel neben Ludwig XVI. Er war nicht mehr Diener, sondern Kerkermeister.
Um elf Uhr gab einer der Kommissare den Kammerdienern Befehl, das wenige Bettzeug zu nehmen und ihnen zu folgen.
»Wohin?« fragten die Kammerdiener.
»In die Schlafgemächer eurer Herrschaft«, antwortete der Kommissar; »der Palast ist nur die Wohnung für tagsüber.«
»Mein Gott!« sagte der Kammerdiener, »Sie werden uns doch nicht in diesen Turm führen?«
»Allerdings, die Zeit der Paläste ist vorüber. Du wirst jetzt sehen, wie man den Mörder des Volkes unterbringt!« Im ersten Stockwerk blieben die Kammerdiener stehen; aber der Mann mit der Laterne ging weiter hinauf. Im zweiten Stockwerke endlich schloß er eine im Seitengange befindliche Tür auf.
Man trat in ein Zimmer, das nur ein Fenster hatte und dessen Einrichtung
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