Die Graefin Charny
mir?«
»Ich will von Ihnen, Madame, was Gott von Kain wollte, als er ihn fragte: ›Kain, was hast du mit deinem Bruder gemacht?‹«
»Mit dem Unterschiede,« erwiderte die Königin, »daß Kain seinen Bruder getötet hatte ... ich hingegen ... würde zehn Leben geopfert haben, um das seinige zu retten!«
Die Gräfin von Charny wankte.
»Er ist also tot?« fragte sie.
Marie Antoinette sah die Gräfin an und erwiderte, ihre mit Blut bedeckten Füße zeigend:
»Glauben Sie, ich würde mir nicht die Füße gewaschen haben, wenn dies mein Blut wäre?«
Andrea wurde leichenblaß. »Sie wissen also, wo seine Leiche ist?« stammelte sie. »Ich will Sie hinführen, wenn man mich hinausläßt«, sagte Marie Antoinette.
»Ich will Eure Majestät auf der Treppe erwarten«, sagte die Gräfin und entfernte sich.
Pitou wartete vor der Tür.
»Herr Pitou,« sagte die Gräfin von Charny, »eine Freundin von mir will mich zu der Leiche des Grafen führen; es ist eine Kammerfrau der Königin ... darf sie mich begleiten?«
»Nur unter der Bedingung, daß ich sie wieder hierher zurückbegleite.«
»Gut, Sie können sie zurückbegleiten«, erwiderte die Gräfin.
Die Tür des Vorzimmers ging auf, und die Königin erschien tief verschleiert. Marie Antoinette ging voran, die Gräfin folgte ihr, zuletzt kam Pitou.
Marie Antoinette ging mit der brennenden Fackel voran. Vor der Haupttür der Nationalversammlung stand sie still:
»An dieser Tür ist er gefallen.«
Im Korridor senkte Marie Antoinette die Fackel gegen den Fußboden.
»Dies ist sein Blut«, sagte sie.
Die Gräfin blieb stumm.
Die Königin öffnete eine Tür und leuchtete mit der Fackel hinein.
»Hier liegt er«, sagte sie.
Andrea ging auf die Tribüne, setzte sich auf den Fußboden und legte mit großer Anstrengung das bleiche Haupt Oliviers auf ihren Schoß.
»Ich danke Ihnen, Madame,« sagte sie leise; »Sie haben meine Bitte erfüllt.«
»Aber ich,« erwiderte die Königin, »ich habe Sie noch um etwas zu bitten ... Verzeihen Sie mir?«
Eine kurze Pause folgte, als ob die Gräfin unschlüssig gewesen wäre. »Ja,« erwiderte sie endlich; »denn morgen werde ich bei ihm sein.«
Die Königin reichte der Gräfin eine Schere und sagte mit fast bittendem Tone: »Nun, so beweisen Sie, daß Sie mir verzeihen.«
Andrea schnitt dem Toten eine Haarlocke ab und gab sie der Königin.
Marie Antoinette faßte die Hand der Gräfin und küßte sie. Andrea zog ihre Hand mit einem leisen Schrei zurück, als ob die Lippen der Königin ein glühendes Eisen gewesen wären.
»Ach!« seufzte Marie Antoinette, sich entfernend, »wer kann sagen, welche von uns beiden ihn am meisten geliebt hat!«
Die Königin begab sich in ihr Zimmer zurück. Andrea blieb bei ihrem Toten, auf den sich ein blasser Mondesstrahl wie der Blick eines teilnehmenden Freundes herabsenkte.
Pitou begleitete die Königin bis an die Tür des Vorzimmers zurück. Dann sorgte er dafür, daß Charnys Leiche in die Rue Coq-Héron gebracht wurde. –
Am andern Morgen um acht Uhr klopfte Gilbert an die Tür des kleinen Hauses in der Rue Coq-Héron. Andrea hatte ihn rufen lassen. Bevor er sich vom Hause entfernte, rief er Pitou und ersuchte ihn, Sebastian aus der Lehranstalt des Abbé Bernardier abzuholen und in die Rue Coq-Héron zu führen. Dort sollte er Gilbert vor der Tür erwarten.
Andrea wartete schon, sie war ganz schwarz gekleidet. Man sah, daß sie seit gestern weder geschlafen noch geweint hatte; ihr Gesicht war blaß, ihre Augen trocken.
Gilbert verneigte sich und erwartete die Anrede der Gräfin.
»Herr Gilbert,« sagte Andrea, »ich wollte Sie und keinen andern kommen lassen, weil Sie nicht das Recht haben, den Dienst, um welchen ich Sie ersuchen will, zu verweigern.«»Sie haben recht, Madame; Sie können alles von mir verlangen, selbst mein Leben.«
»Herr Gilbert,« begann Andrea, »Sie wissen, was ich gelitten habe – – bis Olivier mir ein großes Glück schenkte. Heute Nacht fand ich ihn als Leiche wieder. Er liegt in diesem Zimmer ...
Glauben Sie, daß der Wunsch, nach einem solchen Leben mit ihm in einem Grabe zu ruhen, zu vermessen sei? .... Herr Gilbert, Sie sind ein geschickter Arzt, ein gelehrter Chemiker, Sie haben mir großes Unrecht getan, Sie haben viel abzubüßen ... Geben Sie mir ein schnell und sicher wirkendes Gift; dann will ich Ihnen nicht nur verzeihen, sondern mit dem innigsten Dank aus dem Leben scheiden.«
»Madame, ist dies wirklich Ihr Ernst?«
»Ich
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