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Die Grasharfe

Titel: Die Grasharfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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verhaften, und meine Pficht, sie zu verurteilen. Manchmal scheint es mir, als ob alle, die ich jemals schuldig gesprochen habe, die eigentliche Schuld auf mich gehäuf hätten, und in gewissem Grade ist es das, was mich wünschen läßt, einmal, bevor ich sterbe, gerecht auf der Seite des Rechts zu sein."
       „Ihr seid auf der richtigen Seite jetzt. ‚Jene' und der Jude …"
       „Pscht", machte Dolly.
       „Der einzige Mensch auf der Welt." Riley wiederholte diesen Satz des Richters in einem zögernden, prüfenden Ton.
       „Ich meine", erklärte der Richter, „den Menschen, dem man alles sagen kann. Ob ich wohl ein Narr bin, daß ich mir so etwas wünsche? Aber, ach, die Mühe, die wir darauf verwenden, uns voreinander zu verbergen, die Bangigkeit, daß wir erkannt werden könnten! Aber hier sind wir erkannt als das, was wir sind: fünf Narren in einem Baum. Das ist ein großes Glück, vorausgesetzt, daß wir den richtigen Gebrauch davon machen, wenn wir unbesorgt darum sind, wie wir den anderen erscheinen, und frei herausfnden dürfen, wer wir in Wahrheit sind. Wenn wir wissen, daß niemand uns verjagen kann; aus Unsicherheit über sich selbst verschwören sich unsere Freunde, die Schwierigkeiten zu leugnen. In Bruchstücken und Häppchen habe ich mich früher bisweilen an Fremde ausgeliefert – Menschen, die an der nächsten Station ausstiegen oder auf dem Schifsteg wieder entschwanden; sie alle zusammen, in einer Person, hätten vielleicht der einzige Mensch auf der Welt sein können. Aber so wie es war, war es eben einer mit einem Dutzend von verschiedenen Gesichtern, der sich auf hundert getrennten Straßen Bewegung machte. Jetzt habe ich die glückliche Möglichkeit, ihn zu fnden – Sie sind es, Miß Dolly, Riley und ihr alle."
       Catherine widersprach: „Ich bin kein Mensch mit ein paar Dutzend Gesichtern, welch ein Blödsinn", und das ärgerte Dolly, die ihr riet, wenn sie nicht respektvoll reden könne, lieber schlafen zu gehen. „Aber, Richter", fragte Dolly, „ich weiß nicht genau, was Sie damit meinen. Wir sollten uns alles sagen. Geheimnisse vielleicht?" schloß sie lahm.
       „Nein, nein, keine Geheimnisse." Der Richter riß ein Streichholz an und entzündete die Kerze wieder; sein Gesicht sprang uns mit einem unerwartet leidenschaflichen Ausdruck entgegen. Wir sollten ihm helfen, bat er.
       „Sprecht von der Nacht, davon, daß sie mondlos ist. Über was man spricht, darauf kommt es kaum an, nur auf die Zuversicht, mit der es gesagt wird, und auf das Wohlwollen, mit dem es aufgenommen wird. Irene, meine Frau, war eine ungewöhnliche Frau, wir hätten alles teilen können, und dennoch, dennoch hat uns nichts verbunden, wir konnten uns nicht näherkommen. Sie starb in meinen Armen, und im letzten Augenblick fragte ich sie: ‚Bist du glücklich, Irene? Habe ich dich glücklich gemacht?' ‚Glücklich, glücklich, glücklich', das waren ihre letzten Worte – wie doppelsinnig. Ich habe niemals verstanden, ob sie ja sagen wollte oder ob sie lediglich wie ein Echo antwortete: Ich würde es wissen, wenn ich sie jemals gekannt hätte. Meine Söhne. Ich erfreue mich nicht ihrer Wertschätzung; und doch, ich habe gerade dies gewünscht, mehr als Mann denn als Vater. Unglücklicherweise sind sie der Ansicht, daß sie etwas Beschämendes über mich wissen. Ich will euch sagen, was es ist." Seine männlichen Augen, die das Kerzenlicht spiegelten, prüfen uns einen nach dem anderen, als wolle er sich unseres Vertrauens, unserer Aufmerksamkeit versichern. „Vor fünf Jahren, beinahe vor sechs Jahren, fand ich auf meinem Sitzplatz in der Bahn eine Kinderzeitschrif, die ein Kind dort hatte liegen lassen. Ich nahm sie an mich, und beim Durchblättern las ich auf der letzten Seite Adressen von Kindern, die mit anderen Kindern korrespondieren wollten. Darunter war auch ein kleines Mädchen in Alaska, ihr Name verlockte mich: Heather Falls. Ich sandte ihr eine Ansichtskarte; Gott, mir schien es nur nett und harmlos, das zu tun. Sie antwortete umgehend, und der Brief überraschte mich; es war ein sehr intelligenter Bericht über das Leben in Alaska, reizende Beschreibungen von der Schafarm ihres Vaters und von Nordlichtern. Sie war dreizehn und fügte eine Photographie von sich bei, kein hübsches, aber ein klug und freundlich aussehendes Kind. Ich durchsuchte einige alte Photoalbums und fand eine Aufnahme von mir auf einem Angelausfug, als ich fünfzehn war; draußen in der Sonne,

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