Die Grasharfe
mürrisch war, gab er sein Amt als Oberrichter auf und fuhr mit ihr hinüber zu den Orten, wo sie ihre Flitterwochen verbracht hatten. Sie kam nicht wieder zurück; sie wurde in der Schweiz begraben. Vor gar nicht langer Zeit ging Carrie Wells, eine Schullehrerin aus unserer Stadt, mit einer Reisegesellschaf nach Europa; das einzige, was unsere Stadt mit dem alten Kontinent verbindet, sind Gräber – die Gräber junger Soldaten und das von Irene Cool; und Carrie, ausgerüstet mit einer Kamera für Momentaufnahmen, nahm sich vor, jedes einzelne zu besuchen. Aber obwohl sie den ganzen Nachmittag auf einem Bergfriedhof umherstolperte, konnte sie das Grab der Richtersfrau nicht fnden, und es ist komisch, sich vorzustellen, daß Irene Cool feierlich an einem Berghang ruhte und noch immer nicht bereit war, zu empfangen. Für den Richter war nicht viel übriggeblieben, als er zurückkam; Politiker wie Meiself Tallsap und seine Bande waren an die Macht gekommen; diese Burschen konnten es sich nicht leisten, daß Charlie Cool im Gerichtssaal saß. Es war traurig, den Richter zu sehen, einen stattlichen Mann in eng sitzenden Anzügen mit einem schwarzseidenen Band, das um den Ärmel genäht war; es war traurig, mit anzusehen, wie er keine andere Beschäfigung hatte, als auf die Post zu gehen oder Einzahlungen auf der Bank zu machen. Seine Söhne arbeiteten an der Bank, etwas afektierte, vorsichtige Männer, die Zwillinge hätten sein können, denn sie waren beide weißhäutig wie Silberpappellaub, mit abfallenden Schultern und wäßrigen Augen. Charles junior, der sein Haar schon während des Studiums verloren hatte, war Vizepräsident der Bank, und Todd, der jüngere Sohn, war Hauptkassierer. Sie glichen ihrem Vater einzig darin, daß sie Frauen aus Kentucky wählten. Diese Schwiegertöchter hatten das Haus des Richters übernommen und es in zwei Wohnungen mit separaten Eingängen aufgeteilt. Eine Vereinbarung wurde getrofen, derzufolge der alte Mann einmal bei der Familie des einen Sohnes lebte, das andere Mal bei der des anderen. Kein Wunder, daß es ihm nach einem Spaziergang in den Wäldern zumute war.
„Schönen Dank, Miß Dolly", sagte er und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. „Das ist das beste Hühnerbein, das ich je gegessen habe." „Ein Hühnerbein, das ist das wenigste, was wir für Sie tun können; Sie waren sehr mutig." In Dollys Stimme bebte ein rührend weibliches Tremolo, das mir ungehörig erschien und ihrer nicht ganz würdig; auch Catherine schien das so zu empfnden, denn sie warf Dolly einen tadelnden Blick zu. „Wollen Sie nicht noch etwas haben, vielleicht ein Stück Kuchen?"
„Nein, danke, M'am, ich habe genug." Er löste die Kette seiner goldenen Uhr von seiner Weste und schlang sie um einen kräfigen Ast über seinem Kopf; daran hing nun die Uhr wie Christbaumschmuck, und ihr kaum hörbares, federleichtes Ticken war wie der Herzschlag eines ganz zarten Wesens, eines Glühwürmchens, eines Frosches. „Wenn man hören kann, wie die Zeit vergeht, scheint einem der Tag länger. Ich bin dahin gekommen, einen langen Tag hochzuschätzen." Er strich den Pelz der Eichhörnchen zurück, die zusammengerollt in einer Ecke lagen, als ob sie nur schliefen. „Genauer Kopfschuß – gut getrofen, Sohn."
Natürlich gab ich das Lob an die richtige Adresse weiter. „Also Riley Henderson war es?" sagte der Richter und erzählte uns dann, daß durch Riley Henderson unser Aufenthaltsort bekannt geworden sei. „Vorher haben sie Telegramme für mindestens hundert Dollar weggeschickt", fuhr er fort, und die Vorstellung kitzelte ihn angenehm. „Ich meine, es ist der Gedanke an all das viele Geld, der Verena bettlägerig gemacht hat."
Mit fnsterem Blick klagte Dolly: „Es ist kein Gran Vernunf mehr in all denen, daß sie sich derart häßlich benehmen. Sie scheinen besessen genug, uns umbringen zu wollen, obwohl ich nicht sehe, warum und was das mit Verena zu tun haben soll; sie wußte, daß wir weggegangen waren, um ihren Frieden nicht zu stören, ich sagte ihr das, und ich habe ihr sogar einen Zettel hinterlassen. Aber wenn sie krank ist – ist sie das wirklich, Richter? Ich habe sie niemals krank gesehen."
„Nicht einen Tag", fügte Catherine hinzu.
„Oh, sie ist ganz schön aufgeregt", verriet der Richter mit einer gewissen Befriedigung. „Aber Verena ist nicht die Frau, sich mit etwas niederzulegen, das durch ein Aspirin behoben werden kann. Ich entsinne mich,
Weitere Kostenlose Bücher