Die grauen Seelen
habe danach nicht mehr oft an ihn gedacht. Aber zuweilen kam es vor. Edmond Gachentard, mein alter Kollege, hatte mir neben seinem Karabiner einige Bilder dieses gelben Landes hinterlassen. Ich meine, keine Bilder auf Papier, sondern solche, die in den Kopf eindringen und dort bleiben.
In seiner Jugend war Gachentard Mitglied eines nach Tonkin entsandten Expeditionscorps gewesen. Er hatte von dort ein Fieber mitgebracht, das ihn häufig von einem Moment auf den anderen käseweiß werden und zittern ließ, sowie ein grünes Kaffeeglas, das auf seinem Esszimmertisch stand, dazu eine Fotografie, auf der er in Uniform vor Reisfeldern zu sehen war, eine gewisse Trägheit im Blick, eine Art Entrückung, die ihn ergriff, sooft er an diese Länder dachte, an das, was er mir davon erzählt hatte, an die Nächte mit den Gesängen von Fröschen und Agakröten. An die Hitze, die den Körper klebrig macht, den breiten, schlammigen Fluss, der Bäume, Ziegenkadaver, Seerosen und losgerissene Uferwinden mit sich führt. Manchmal machte Gachentard mir sogar die Tänze der Frauen vor, ihre grazilen Handbewegungen, ihre gebogenen Finger, das Rollen ihrer Augen und die Flötenmusik, die er pfeifend neu komponierte, wobei er so tat, als spielte er auf einem abgesägten Besenstiel.
In diesem Dekor sah ich den Pfarrer vor mir, die Arme beladen mit unbekannten Blumen, mit einem Tropenhelm und einer hellen Soutane, deren unteren Rand eine Borte aus getrocknetem Schlamm zierte, während er warmen Regen auf glänzende Wälder fallen sah. Ich sah ihn lächeln, immer nur lächeln. Warum, weiß ich nicht.
Als ich in unserem Zimmer im Bischofspalais erwachte, fiel mir sofort Clemence ein. Koste es, was es wolle, ich musste nach Hause, notfalls die Straße umgehen, sollte sie noch immer gesperrt sein, jeden erdenklichen Umweg machen, um endlich wieder zu ihr zu kommen. So schnell wie möglich. Ich kann nicht sagen, dass ich eine Vorahnung hatte. Ich war nicht beunruhigt. Nein. Aber ich hatte Sehnsucht nach ihrer Haut, ihren Augen, ihren Küssen, wollte mich an sie schmiegen, um den Tod, der überall am Werk war, eine Weile zu vergessen. Ich zog meine noch nicht ganz trockenen Kleider an. Rieb mir das Gesicht mit Wasser ab. Pater Lurant schlief noch. Er sägte wie ein Waldarbeiter, mit breitem, rosigem Gesicht. Ich dachte, dass er vermutlich auch im Schlaf die Arme voll Blumen hatte. Mit leerem Bauch brach ich auf.
Berthe ist in der Küche. Ich sehe sie nicht, spüre aber, wie sie schnauft und den Kopf von einer Seite zur anderen wiegt. Sie schnauft immer, wenn sie meine Hefte sieht. Was geht es sie an, womit ich meine Tage verbringe? Wahrscheinlich hat sie Angst vor den Buchstaben. Sie hat nie lesen gelernt; für sie sind die aneinander gereihten Wörter ein großes Geheimnis. Neid und Angst.
Ich gelange zu dem Punkt, dem ich mich seit Monaten nähere. Wie einer schreckliche Horizontlinie. Ich komme zu jenem entsetzlichen Morgen. Zu dem Augenblick, an dem die Uhren stehen blieben. Zu jenem endlosen Sturz. Zum Tod der Sterne. Eigentlich hat Berthe nicht Unrecht. Die Worte sind angsteinflößend. Sogar für Menschen, die sie kennen und entziffern können. Ich bin angekommen und bringe es nicht fertig. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Die Finger am Füllhalter zittern. Die Eingeweide verkrampfen sich. Die Augen brennen. Ich bin über fünfzig, fühle mich aber wie ein vom Grauen geschüttelter Schuljunge. Ich trinke ein Glas Wein. Dann noch eins, ohne abzusetzen. Ein drittes. Ich setze die Flasche an und trinke sie aus. Clemence kommt nahe zu mir. Sie beugt sich über meine Schulter. Ich spüre den Hauch ihres jungen Atems im ergrauten Nacken. «Schon am Morgen so viel trinken, wenn das keine Schande ist ... Mittags werden Sie betrunken sein.» Das ist Berthe. Ich schreie sie an. Sage ihr, sie soll sich rausscheren. Sich um ihren eigenen Kram kümmern. Sie zuckt die Achseln. Lässt mich allein. Ich atme tief ein. Greife nach dem Füllhalter.
Als ich das Haus sah, fing mein Herz heftig zu pochen an. Es war völlig verschneit, glänzte in der hellen Sonne. Dünne Eiszapfen verbanden den Rand des Dachs mit dem weißen Boden. Plötzlich war mir nicht mehr kalt, der Hunger war verflogen, ich hatte den Eilmarsch vergessen, den ich mir auferlegt hatte, vier Stunden auf der Straße, auf der der endlose Zug der Soldaten, Karren, Pferdefuhrwerke und Lastwagen nicht abriss. Hunderte von Soldaten hatte ich überholt, die mit schweren Schritten
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