Die grauen Seelen
makellosen Nägeln. Was er in den Mund steckte, kaute er lange; Wein trank er mit geschlossenen Augen. Wir aßen alles auf. Keine Krümel, keine Kruste, die Teller blank geputzt. Der Tisch sauber. Die Mägen gefüllt. Dann unterhielten wir uns, wie wir es noch nie getan hatten. Wir sprachen über Blumen, das war seine Leidenschaft, «der schönste Beweis der Existenz Gottes, falls einer nötig wäre», sagte er. Wir sprachen über Blumen, in diesem Zimmer, während es um uns herum Nacht war und Krieg, während sich irgendwo ein Mörder herumtrieb, der ein zehnjähriges Mädchen erwürgt hatte, während weit weg von mir Clemence in unserem Bett blutete, schrie, weinte, brüllte, ohne dass jemand sie hörte und ihr zu Hilfe kam.
Ich wusste bis dahin nicht, dass man sich über Blumen unterhalten kann. Ich meine damit, ich habe nicht gewusst, dass man sich über Menschen unterhalten kann, indem man über Blumen spricht und ohne dass die Worte Mensch, Schicksal, Tod, Ende und Verlust fallen. An jenem Abend lernte ich es. Auch der Pfarrer beherrschte die Kunst der Rede. Wie Mierck. Wie Destinat. Aber er machte daraus etwas Gutes. Er rollte lächelnd die Worte mit der Zunge, und aus einer Nichtigkeit wurde ein Wunder. Bestimmt bekommen sie das in ihren Seminaren beigebracht: die Phantasie mit gewandten Sätzen zu wecken. Er beschrieb mir seinen Garten hinter dem Pfarrhaus, den man wegen der Mauern nicht einsehen konnte. Er erzählte mir von Kamille, Christrosen, Petunien, Bartnelken, Federnelken, Anemonen, Schleifenblumen, Pfingstrosen, Fetthenne, Opuntia und Datura, von Blumen, die nur einen Sommer blühen, und anderen, die jedes Jahr wiederkommen, von solchen, die am Abend aufblühen und am Morgen welken, und wieder anderen, die vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang leuchten, Winden, deren rosa und violette Blütenkronen sich am Morgen öffnen und sich mit Einbruch der Nacht plötzlich schließen, als habe eine Hand die Blätter zugedrückt.
Von diesen Blumen hatte der Pfarrer in einem anderen Tonfall gesprochen als von den anderen. Das war nicht mehr der Tonfall des Pfarrers. Nicht mehr der des Gärtners. Das war der Tonfall eines verwundeten Menschen. Als er gerade den Namen dieser Blume aussprechen wollte, gebot ich ihm mit einer Handbewegung Einhalt. Ich wollte ihn nicht hören, den Namen. Ich kannte ihn. Er pochte seit zwei Tagen in meinem Kopf, pochte und pochte. Die Erinnerung an das Gesicht der Kleinen traf mich; der Pfarrer verstummte. Draußen war der Regen wieder zu Schnee geworden. Flocken schlugen schwer gegen die Scheibe. Jahrelang habe ich später versucht, in unserem kleinen Garten diese Belles de Jours zu ziehen. Es ist mir nie gelungen. Die Samen blieben im Boden stecken, verfaulten hartnäckig, weigerten sich, dem Himmel entgegenzuwachsen, aus der dunklen, feuchten, klebrigen Erdmasse herauszukommen. Nur Quecken und Disteln wuchsen und überwucherten alles, sprossen zu unwahrscheinlichen Höhen, erstickten mit ihren Blüten alles andere.
Seitdem habe ich oft daran gedacht, was der Pfarrer über die Blumen, Gott und dessen Beweis gesagt hatte. Ich habe gedacht, dass es wahrscheinlich Orte auf der Welt gibt, an die Gott nie auch nur einen Fuß setzt. Pater Lurant ist weggegangen, um die Stämme Annams in den Bergen Indochinas zu missionieren. Das war 1925. Er kam bei mir vorbei, um mir die Neuigkeit zu erzählen; ich wusste nicht, warum er auf diesen Besuch Wert legte. Vielleicht weil wir uns einmal in Unterhosen unterhalten und Zimmer und Wein miteinander geteilt hatten. Ich habe ihn nicht gefragt, weshalb er einfach so fortging, obwohl er nicht mehr jung war. Ich fragte bloß: «Und Ihre Blumen?»
Er sah mich an, lächelnd, mit diesem Pfarrerblick, von dem ich gesprochen habe, der in unser Innerstes dringt und uns die Seele herausreißt, wie man mit einer zweizinkigen Gabel die gekochte Schnecke aus ihrem Haus zieht. Dann sagte er, da, wo er hingehe, gebe es tausend Blumen, tausend, die er noch nicht kenne, die er nie gesehen habe oder doch nur in Büchern, und man könne nicht immer nur in Büchern leben, eines Tages müsse man das Leben und seine Schönheiten mit vollen Händen ergreifen.
Beinahe hätte ich ihm gesagt, für mich gelte eher das Gegenteil, ich hätte genug Leben und würde mich ohne Zögern in die Bücher stürzen, wenn es welche gäbe, die mich über das Leben hinwegtrösten könnten. Aber wenn man sich fern steht, nützt Reden nichts. Wir haben uns die Hand geschüttelt.
Ich
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