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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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marschierten, und mir, der ich in Zivil gekleidet war, böse Blicke zuwarfen, weil ich so eilig dorthin strebte, wohin sie nur widerwillig gingen. Dann endlich das Haus. Unser Haus. Ich klopfte die Schuhe an der Mauer ab, weniger wegen des Schnees, als um ein Geräusch zu machen, ein vertrautes Geräusch, das verkünden sollte, ich sei da, auf der anderen Seite der Wand, nur noch zwei Schritte von ihr entfernt. Ich lächelte, stellte mir vor, wie Clemence sich mich vorstellte, drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Ich trug mein Glück im Gesicht. Es gab keinen Krieg mehr, kein Gespenst, kein ermordetes Kind. Es gab nur noch meine Geliebte, die ich wieder sehen und in die Arme schließen würde, bevor ich meine Hände auf ihren Bauch gleiten ließ, um unter der Haut das ungeborene Kind zu spüren. Und ich bin ins Haus gegangen.
    Das Leben ist seltsam. Es warnt einen nicht. Alles mischt sich, und verhängnisvolle Augenblicke folgen auf gnadenreiche. Der Mensch ist einer jener kleinen Kieselsteine, die auf der Straße tagelang am selben Fleck liegen, bis irgendwer oder irgendwas sie wegstößt oder in die Luft schießt. Was kann der Kieselstein schon tun? Es herrschte eine seltsame Stille im Haus. Das Gefühl, es sei wochenlang unbewohnt gewesen. Alles war an seinem Ort, wie gewöhnlich, aber lastender, kälter. Doch vor allem war da diese Stille, die meine Stimme schluckte, als ich rief. Und plötzlich spürte ich, dass mein Herz aussetzte. Oben an der Treppe stand die Schlafzimmertür halb offen. Ich tat zwei Schritte. Ich glaubte, keinen einzigen mehr tun zu können. Genau weiß ich nicht mehr, was ich in welcher Reihenfolge getan habe und wie lange es gedauert hat. Clemence lag auf dem Bett, mit blasser Stirn und noch blasseren Lippen. Sie hatte viel Blut verloren, und ihre Hände pressten sich auf ihren Bauch, als hätte sie versucht, das, was sie monatelang in sich getragen hatte, allein ans Licht der Welt zu bringen. Um sie herum die allergrößte Unordnung. Sie ließ mich verstehen, was sie zu tun versucht hatte. Es war ihr nicht gelungen, das Fenster zu öffnen und um Hilfe zu rufen. Sie hatte nicht gewagt, die Treppe hinunterzugehen, wahrscheinlich, weil sie fürchtete, zu stürzen und das Kind zu verlieren. Endlich hatte sie sich aufs Bett gelegt. Sie atmete erschreckend langsam, und ihre Wangen waren kaum noch warm. Ihr Gesicht war totenblass. Ich legte meine Lippen auf ihre, sagte ihren Namen, schrie, nahm ihr Gesicht in meine Hände, ohrfeigte sie, blies ihr Luft in den Mund. An das Kind habe ich keinen Gedanken verschwendet. Ich sorgte mich nur um sie. Dann versuchte ich, das Fenster zu öffnen, der Griff ging ab, ich hämmerte mit der Faust gegen die Scheibe, bis sie zerbrach, schnitt mich und brüllte auf die Straße hinaus. Türen, Fenster flogen auf. Ich stürzte zu Boden. Ich stürze noch immer. Ich lebe in diesem Sturz. Immerzu.

    XVII

    Hippolyte Lucy steht neben Clemence, beugt sich mit angespanntem Gesicht über sie. Man hat mich auf einen Stuhl gesetzt. Ich sehe zu, ohne zu verstehen. Im Zimmer sind viele Menschen. Nachbarinnen, junge und alte, die leise sprechen, als hielten sie bereits die Totenwache. All diese Schlampen, wo waren sie denn, als Clemence stöhnte und versuchte, um Hilfe zu rufen? Wo waren die Weiber, die sich jetzt vor meinen Augen am Unglück laben, auf meine Kosten? Ich stehe auf, balle die Fäuste, ich muss aussehen wie ein Verrückter, ein Mörder, ein Irrer. Ich sehe sie zurückweichen. Ich werfe sie raus. Schließe die Tür. Jetzt sind wir nur noch zu dritt, Clemence, der Arzt und ich.
    Ich habe schon gesagt, dass Hippolyte Lucy ein guter Arzt war. Ein guter Arzt und ein guter Mensch. Ich sah nicht, was er tat, aber ich wusste, dass er es gut machte. Er sagte mir Wörter: Hämoragie, Koma. Er drängte: Wir sollten uns beeilen. Ich hob Clemence hoch. Sie war leicht wie eine Feder. Es war, als lebte nur noch ihr Bauch und als hätte sich alles Leben sich in diesen übergroßen, hungrigen Bauch zurückgezogen. In der Kutsche hielt ich sie an mich gepresst, während der Arzt mit der Peitsche auf die Kruppen seiner beiden Gäule einhieb. Wir kamen zum Krankenhaus. Man trennte mich von ihr. Zwei Krankenschwestern nahmen sie auf einer Rollbahre mit. Clemence verschwand im Geruch von Äther, im Rascheln weißer Laken. Man sagte, ich solle warten.
    Stundenlang saß ich in einem Wartezimmer neben einem Soldaten, der seinen linken Arm verloren hatte. Ich erinnere

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